Am kunstseidenen Faden

Nylonstrümpfe waren in den Fünfzigerjahren das Symbol von Stil, Freiheit und einer Globalisierung von Schönheitsidealen. Heute sind sie billige Wegwerfartikel, vergiften Meere und die Atmosphäre. Trotzdem kann unsere Autorin nicht von ihnen lassen. Aber muss das alles so sein?

 

Greenpeace Magazin, Ausgabe "Globalisierung"
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Ich hänge fest. Dabei ist das wirklich der letzte Ort der Welt, von dem ich nicht mehr loskommen möchte. Es ist um die null Grad kalt, Winterlicht fällt durch eine geöffnete Rolltür, Mülldunst durchzieht die Lagerhalle im slowenischen Ajdocscina. Mein Mund stößt samt eines fluchenden "Aaahh" neblige Wolken aus: Die Knöpfe meines Hemdärmels haben sich in einem von tausenden Fischernetzen verheddert, die sich bis zum Dach der Lagerhalle stapeln. Als ich noch im sicheren Abstand vorbeigelaufen bin, fand ich die Fischnetze eigentlich ganz schön. In grün, gelb, blau, pink, weiß sahen sie aus wie verschnürte filzig weiche Quader, in die man sich reinwerfen möchte. Wenn man das aber tatsächlich macht, spürt man die scharfen Kanten des Garns, ihre unnachgiebige Festigkeit. Millionen von Meereswesen müssen sich genau wie ich in diesen Netzen verheddert haben - und verendet sein. Vorsichtig fahre ich mit den Fingern die dünnen Fäden entlang. Ein Arbeiter kommt mit einer Scannerpistole vorbei, die Materialien erkennt. Er richtet sie auf die Netze, die Pistole blinkt kurz auf, auf dem Display steht, warum ich hierher gekommen bin und wovon ich auch sonst nicht so einfach loskomme: Nylon.

Dies ist die Geschichte eines Fetischs – von mir persönlich, aber auch vom Rest der Welt. Die nahezu unzerstörbare Kunstfaser durchflicht seit knapp 80 Jahren die Weltgeschichte wie keine andere. Bei ihrem amerikanischen Handelsnamen Nylon denken viele zuerst an halterlose Strümpfe, beim deutschen Namen Perlon an verschwitzte Nyltesthemden und beim DDR-Produkt Dederon denken Ostdeutsche an unverwüstliche Einkaufsbeutel. Aber die erste synthetisch hergestellte Textilfaser war noch mehr: Sie war der Auftakt einer beispiellosen, einer wahrhaft globalen Verbreitung des Plastikzeitalters im Textilbereich. Nimmt man ihre Fäden auf, landet man in den Chemielaboren amerikanischer und deutscher Weltkonzerne, in Schützengräben, auf Schwarzmärkten, in Strumpfboutiquen, Ramschständern, in Wäschenetzen und vermüllten Meeren – und von dort aus letztlich  wieder in einem finsteren Lager für Fischnetze in Slowenien.

 

Aber von vorn: Wenn ich morgens nach dem Duschen aus dem Bad komme, stehe ich in meinem Zimmer vor einer stattlichen Kollektion von Feinstrumpfhosen. Ich habe sie nach Farben und Mustern sortiert nebeneinander auf Kleiderbügel aufgereiht und diese an die Wand genagelt. Die Strümpfe sind, wenn man so will, meine Macke, mein Harry, mein Sündenfall. Ich mag es, über ein rasiertes Bein einen zarten Feinstrumpf zu ziehen, so dass sich das Bein mit der Kunststoffhaut selbst in ein Kunstobjekt verwandelt. Je unnatürlicher die Beine schimmern, umso toller finde ich es.

 

Aber die Strumpfhosen haben ein dunkles Geheimnis: Sie ziehen schon nach kurzer Zeit eine Masche, bekommen Löcher oder bilden kleine Abriebpillen. Und dann müssen sie weg. Seit Jahren ärgere ich mich über die miese Masche der Feinstrümpfe. Und ich frage mich, woher sie kommt, wo sie hingeht und was sie auf ihrem Weg alles niederreißt.

 

Das erste Etappenziel meiner Reise ist mir bestens bekannt – und nicht nur mir:  Laut Statista kaufte im Jahr 2017 jeder Deutsche 3,6 Paar Feinstrümpfe. Wenn man das Gros der Männer und Kinder herausrechnet, dürften Frauen grob überschlagen etwa acht Feinstrumpfwaren pro Jahr kaufen. Geht man davon aus, dass sie, wie ich, immer zwei bis drei Paare auf einmal kaufen, stehen sie also alle drei bis vier Monate dort, wo es mich jetzt hinzieht: im nächsten Strumpfladen. Obwohl die Nachfrage seit etwa sechs Jahren gleich geblieben ist und sogar leicht sinkt, steigen die Gewinne im Strumpfsegment – vor allem bei globalen Großkonzernen, die auf schnelllebige Wegwerfprodukte setzen. Allen voran die italienische Wäschemarke Calzedonia, die in den letzten Jahren mit Billigstrumpfhosen ein weltweites Franchise-Imperium von mittlerweile 4212 Shops aufgebaut hat. In fast jeder Fußgängerzone gibt es eine Filiale. "Der Preis ist entscheidend", sagte Geschäftsführer Sandro Veronesi dem Schick-Magazin. "Er darf für den Kunden nie eine Rolle spielen. Sobald er darüber nachdenkt, haben wir verloren.“ Denn eigentlich haben die meisten genug Socken im Kasten." Als ich mir auf dem Weg zum Laden dieses Zitat in Erinnerung rufe, fühle ich mich ertappt: Denn es stimmt ja, Mangel herrscht auch an meinen Kleiderbügeln selbst dann nicht, wenn mal eine Strumpfhose kaputtgeht.

 

Im Geschäft bin ich dann aber gleich wieder Teil einer heilen Warenwelt aus rumpflosen Plastikbeinen und knallbunten Drehständern, die mir klar signalisiert: Du kannst so viele Strumpfhosen haben, wie du willst, aber die, die du jetzt brauchst, hast du gerade nicht. Es gibt wärmende Winterstrumpfhosen, Bauch-weg- oder Po-hoch-Hosen, Netzstrümpfe, Strumpfhosen mit Glitzer, Schleifen, Bommeln, Rauten, Tattoos, Pünktchen, Streifen, Blumen, Straß. Eine Strumpfhose zu kaufen, wirft elementare Fragen auf: Wie fühle ich mich? Wo ist mein Po? Hat mein Leben genug Glitzer?  "Brauchen Sie Hilfe?", fragt die Verkäuferin. "Ja", antworte ich, und denke: Da war ja noch was. "Meine Strumpfhosen gehen immer so schnell kaputt! Was mache ich denn da?" Sie hat ein wissendes Lächeln auf dem Gesicht, führt mich zum Strumpf-Karussell und sagt: "Drei zum Preis von zwei!"

 Wenn man eine kaputte Strumpfhose hat und drei neue angeboten bekommt, drängt sich unweigerlich der Gedanke auf, dass das Loch vom Hersteller gewollt ist. Feinstrumpfhosen gelten als "Beispiel wie man vorsätzlich die Lebensdauer eines an sich strapazierfähigen Produktes verkürzt hat, um den Absatz zu erhöhen", sagt Kirsten Brodde, die sich bei Greenpeace mit Fast Fashion beschäftigt. Man nennt das 'geplante Obsoleszenz'. Der Begriff ist umstritten: Aktivisten behaupten, die Wirtschaft sei daran interessiert, Produkte so schnell wie möglich obsolet – also überflüssig – werden zu lassen. Die Wirtschaft sagt, das müsse so sein, damit das Produkt meinen Ansprüchen an seine Form und Nutzbarkeit entspricht. Ist das Loch in meiner Strumpfhose dort, weil sie perfekt sitzen und aussehen sollte oder damit ich mir schnell eine neue kaufe? Darauf werde ich hier keine ehrliche Antwort bekommen.

 

Also weiter in die Bibliothek – heute mal ohne neue Strümpfe! Dort lerne ich schnell, dass das, was es über Strumpfhosen zu wissen gibt, immer auch mit dem großen Ganzen zu tun hat: mit Geld, Macht und dem nicht immer friedlichen Wettbewerb der Systeme. In Amerika entwickelte der Chemiker Wallace Hume Carothers für DuPont, seinerzeit das größte US-Chemieunternehmen, in den Dreißigerjahren die erste vollständig synthetisierte Faser aus Kohlenstoff, Wasser und Luft. In dem die heiße Kunststoffschmelze durch eine Düse gepresst wird, entsteht ein Faden, der abgekühlt und dann "kalt verstreckt" wird. Je mehr er gedehnt wird, umso dünner und trotzdem fester wird der Faden. Er sei "stark wie Stahl, fein wie ein Spinnennetz, aber geschmeidiger als jede gebräuchliche Naturfaser", verkündete der damalige DuPont-Manager Charles Stine am 27. Oktober 1938 der Weltöffentlichkeit. In den Monaten des Vorjahres versucht Du Pont alles, ihre "erste von Menschenhand hergestellte Textilfaser" weltweit zu verkaufen - nicht zuletzt bei der deutschen I.G. Farben. In deren Auftrag forschte aber bereits der Chemiker Paul Schlack, Laborleiter des I.G.-Werkes Aceta in Berlin, an einer Synthetikfaser. 1938 schafft auch er den Durchbruch und entdeckt in den Patenten von DuPont eine Lücke. Er schaffte es, aus einem Stoff namens Caprolactam ein Polymer zu bilden, das mit Nylon nahezu identisch ist. Es erhielt den Markennamen Perlon.

 

Doch während die Amerikaner zunächst vordergründig die Amerikanerinnen mit sogenannten „no-runs“ beglücken wollten, die im Gegensatz zu deren hergebrachten japanischen Seidenstrümpfen eben keine Laufmaschen bilden sollten, hatte man im Deutschen Reich Anderes im Sinn: Die I.G. Farben war eng in die Kriegsvorbereitung einbezogen und wollte Deutschland von internationalen Rohstoffen unabhängig machen. Die Synthetikfasern sollten eine seiner Reißfestigkeit angemessen tragende Rolle im Krieg zukommen: Mit Fallschirmen aus Perlon versuchte die deutsche Wehrmacht die in Stalingrad eingeschlossenen Truppen zu versorgen. An Nylon-Fallschirmen landeten die Alliierten in Westeuropa.

 

Nach dem Krieg begann dann die unbeschwerte Hochzeit von Nylon und Perlon - sie wurden zum glänzenden Symbol für den wirtschaftlichen Aufschwung der westlichen Welt – und für eine Globalisierung von Stil und Schönheitsidealen: Mit ihnen verknüpfte sich ein neues Frauenbild, dass die GIs der neuen Weltmacht USA in ihre Spinde klebten, das Weltstars wie Marilyn Monroe und Marlene Dietrich über Kinoleinwände transportierten – und das zum Beispiel auch die deutschen Fräuleins versuchten zu kopieren.

Heute kann ich meine Strumpfhosenbeine immer noch elegant übereinander legen wie einst die Dietrich, eines aber kann ich nicht mehr: die Nylons bei einer Autopanne ausziehen und als Keilriemen oder Abschleppseil verwenden. Die Strumpfhosen sind nämlich tatsächlich wesentlich weniger reißfest. Damit zurück nach Hause und gleich vor den Fernseher: In einer Arte-Reportage erzählt die amerikanische Autorin Nicols Fox wie es zum Paradigmenwechsel kommen konnte. Ihr Vater habe damals bei DuPont gearbeitet und die ersten unzerstörbaren Strümpfe mit nach Hause gebracht. Die Mutter sei begeistert gewesen.  "Das Problem war, dass sie zu lange hielten und die Strumpfhosenhersteller nicht mehr verkaufen konnten", sagt Nicols Fox. Ihr Vater  und seine Kollegen hätten von DuPont neue Instruktionen erhalten: die Fasern so abzuwandeln, dass es wieder Laufmaschen gab. DuPont hat diese Vorwürfe nie bestätigt.

Reißfeste Nylonstrümpfe sind aber auch nicht unbedingt der pure Sex auf zwei Beinen. Wer jemals eine Kittelschürze aus der DDR gesehen hat, weiß wie sich die Unverwüstlichkeit anfühlt: grob. Feine Maschen, die hauchzart über dem Bein schimmern, waren also durchaus auch von der Damenwelt gewollt. "Mindestens 30 Prozent Ihres Aussehens hängt ab von der Wirkung elegant bestrumpfter Beine", warben Strumpfhersteller noch fünfziger Jahren. Damit begann eine vielleicht viel stärkere Obsoleszenz-Kraft: die Mode. Sie macht Produkte selbst dann überflüssig, wenn sie eigentlich noch brauchbar wären.

 

In dem Buch "Kaufen für die Müllhalde" behaupten Jürgen Reuß und Cosima Dannoritzer, dass sich psychologische Obsoleszenzstrategien besonders gut am saisonalen Farbwechsel studieren lassen. Das funktioniert so: Das Farbinstitut Pantone gibt jedes Jahr einen 'Fashion Color Trend' an die Industrie raus. Für 2018 ist das zum Beispiel "Almost Mauve". Strumpfhosenhersteller färben Teile ihrer Kollektion in diesem hellen Rosa-Ton, Frauenzeitschriften stimmen ihre Leserinnen darauf ein (Vogue: "Diese Farben werden wir im Frühjahr 2018 tragen"), dann werden erste Stars mit Kleidern oder Taschen in "Almost Mauve" gesichtet, dann taucht der Farbton im Strumpfhosenkarussell von Geschäften auf. Und ich frage mich, warum ich noch im letzten Jahr den "Greenery"-Farbton so toll fand und nicht dieses pudrig zarte Etwas.

 

Das ist das Prinzip der so genannten Fast Fashion: ein schneller Wechsel aus Haben-Wollen und Nicht-mehr-haben-Wollen. Ohne Kunstfasern wäre diese auf Obsoleszenz ausgerichtete Produktionsweise nicht in diesem Ausmaß möglich. Immer mehr unserer Kleidungsstücke bestehen aus synthetisierten Stoffen. Polyester, Polypropylen und Acryl werden zunehmend in Hemden, Pullovern, Jacken und Hosen verarbeitet. Das ist zwar billig für den Käufer, aber nicht für die Umwelt. Mehr als 60 Prozent aller Textilfasern werden aus Kunststoff hergestellt.

 

Nylon benötigt von allen Fasern, mit denen Kleidung gewebt werden kann, am zweitmeisten Energie in der Produktion. Bis ich eine Strumpfhose überziehen kann, hat sie eine Odyssee hinter sich, die von einem Chemiewerk zum nächsten führt. Um aus klumpig schwarzem Erdöl ein hauchzartes Gewebe in Almost Mauve zu formen, muss die Masse so oft von einem Zustand in den nächsten übergehen, dass man die Chemiefabriken nicht mehr an zwei Händen abzählen kann. Eine Feinstrumpfhose aus Rohöl braucht etwa drei Mal mehr Energie als eine Strumpfhose aus Baumwolle.

 

Je mehr ich darüber erfahre, was für eine Kraftanstrengung eine Strumpfhose bedeutet, umso mehr ärgert mich, dass ich sie so schnell in die orangefarbenen Behälter des Altkleidersammlers bringe. Haben sie dort wenigstens noch einen Wert? Ich rufe bei dem Alttextilvermarkter Soex an, um herauszufinden, wohin die fatale Masche geht. "Es denkt ja keiner über das Ende der Textilien nach", sagt der Soex-Pressesprecher Tim Krawczyk. "Für viele ist nach der Ladentheke Schluss." Die Soex leert städtische Altkleidercontainer, sammelt aber auch das, was bei H&M oder anderen Unternehmen zurückgegeben wird und überprüft im Sortierwerk in Bitterfeld-Wolfen, was sich davon weiterverkaufen lässt.

 

Wenn die Kleidersäcke ausgekippt und auf ein Fließband verteilt werden, sortieren Fachkräfte, was noch gut ist und was nicht. 57 Prozent aller gesammelten Textilien werden als Second-Hand-Ware in 70 Länder weltweit verkauft. Eine intakte Strumpfhose könnte im Bündel weiterverkauft beispielsweise ein neues Leben auf einem Straßenmarkt in Afrika beginnen. Eine kaputte Strumpfhose wird in die Abfalltonne sortiert und verbrannt – von ihr bekommt Afrika nur die Treibhausgase. "Wir arbeiten an einem chemischen Verfahren, um Nylon zu recyceln", sagt Krawczyk, "aber das erfordert gewaltige Investitionen und Forschungsarbeit, weil wir beim Textilrecycling noch ganz am Anfang stehen." Und das kann dauern. Während andere Textilien zumindest kleingehackt und zu Malerflies weiterverwendet werden, ist für die strapazierfähige Faser hier Schluss. Auch was das angeht, sind Strumpfhosen das perfekte Symbol für eine globalisierte Warenwelt, die mal als Demokratisierung von Stil und Lebensgefühl begonnen hat – und sich nun gegen den Planeten und seine Bewohner wendet.

 

Hier könnte die Geschichte traurig zu Ende sein – dass es weitergeht nach Slowenien, verdanke ich einer noch recht jungen Entwicklung:  Auf der Berliner Fashionweek laufen 2017 sechs Models mit ganz besonderen Strumpfhosen den Laufsteg entlang. Die Strümpfe sind aus einem recycelten Garn gewoben und sollen "Sexappeal und Nachhaltigkeit" miteinander verbinden, wie es die Geschäftsführerin Justina Rokita vom bayrischen Strumpfhersteller Kunert im Umfeld der Veranstaltung ausdrückt.  Ich bin, als ich davon höre, elektrisiert:  Könnte mich eine Strumpfhose aus recyceltem Nylon von der Last der Ökosünde befreien? Aus einer Broschüre des Chemiekonzerns Domo erfahre ich, dass durch die Herstellung von recyceltem Polyamid nur etwa ein Zehntel so viele Treibhausgasemissionen freigesetzt wird wie durch die von jungfräulichem Polyamid. Da Nylonfasern theoretisch unbegrenzt recycelbar sind, könnten meine Strumpfhosen doch wenigstens auf stofflicher Ebene ewig leben. Oder?

 

So also lande ich in der slowenischen Lagerhalle mit den Fischnetzen. Sie gehört dem italienischen Unternehmen Aquafil, das in 15 Werken weltweit Garn aus Polyamid herstellt. "Erwarten Sie kein Barbiehaus", sagt die Pressefrau Maria Giovanna, als sie ihren Kleinwagen vor der Lagerhalle parkt. Sie ist extra aus Italien angereist, um zu zeigen, wie Aquafil aus Müll das Öko-Nylon-Garn "Econyl" spinnt. Am Eingang der Halle sieht man Aufsteller mit Schildkröten im Fischnetz und ich möchte fast glauben, dass meine Strumpfhosen helfen könnten, sie daraus zu befreien. Aber das stimmt nur teilweise. Die Hälfte der Recyclingmaterialien sind nicht Fischernetze, sondern alte Teppiche und Industrieabfälle. Auch die sind wertvolle Sekundärrohstoffe und sollten nicht einfach verbrannt oder verkippt, sondern weitergenutzt werden. Nur sind sie eben nicht so fotogen wie eine Meeresschildkröte im bunten Geisternetzgarn, so makaber das klingt. Und auch von den angelieferten Fischernetzen ist nur der kleinere Teil je durch die Weltmeere. 60 Prozent der Netze kommen aus norwegischen Aquakulturen und haben nie eine Schildkröte gesehen. "Die Textilhersteller waren am Anfang nicht so interessiert an Recyclinggarn", gesteht Giovanna. Es gab Vorbehalte, so körpernahe Kleidung wie Badeanzüge, Wäsche oder Strumpfhosen aus Abfällen zu generieren. Dabei ist die Recycling-Nylonfaser in keiner Weise von einer Nicht-Recycling-Faser zu unterscheiden. Chemisch sind sie gleich. "Mittlerweile suchen Firmen aber nach Geschichten, die sie ihren Käuferinnen zusätzlich zum Produkt anbieten können. Und das ist genau das, was Econyl zu bieten hat." Für die Strumpfhosenbranche, die wie die gesamte Modebranche ein Problem mit ihrem wenig nachhaltigen Image hat, kommt dieser Claim sehr gelegen: Unter Dutzenden anderen Strumpfhosenkollektionen gibt es nun also auch eine aus Recyclingmaterial – mit Garn aus dem slowenischen Werk. Und während ich dort auf dem Fischnetzhaufen sitze, finde ich diese ganze Kreislaufgeschichte eigentlich ziemlich gelungen.   

 

Zurück in Deutschland ist es schnell vorbei mit der gedanklichen Idylle. "Die Branche ist auf einem völlig falschen Weg", brüllt Oliver Spies in den Telefonhörer. Der Gründer des Ökoklamottenabels Langbrett und der Organisation "Stop! Microwaste" ist gerade in Portugal unterwegs, fährt sofort rechts ran und ist völlig aufgeregt. "Kunstfasern haben ein noch viel schwerwiegenderes Problem in die Welt gebracht, nämlich Mikroplastik." Die Wucht seiner Worte irritiert mich zunächst, wird mir aber nach weiteren Recherchen verständlicher: Fasern, die beim Waschen aus Kleidungsstücken gelöst werden,  können in die Weltmeere gelangen. Zwar ist der Faseraustrag bei Strumpfhosen nicht so groß wie beispielsweise Fliespullovern, aber doch in Waschbeuteln in der heimischen Waschmaschine nachweisbar. Eine aktuelle Studie der Weltnaturschutzunion IUCN zeigt, dass die Hauptquelle für Mikroplastik im Ozean neben Reifenabrieb von Textilien stammt. Jedes Jahr landen 1,5 Millionen Tonnen Mikroplastik im Meer – das ist in etwa so als ob jeder Mensch auf der Welt jede Woche eine leere Plastiktüte in die Fluten  werfen würde. Kleintiere im Meer verwechseln die Mikrofasern mit Plankton, werden von Fischen gefressen - und landen so wieder auf unseren Tellern. Ganz stark vereinfacht, hieße das, dass ich meine eigenen Strumpfhosen esse! So weit reicht meine Liebe nun auch wieder nicht.

 

"Wir werden aber um synthetische Fasern nicht ringsrum kommen", sagt Marijana Toben, die sich schwerpunktmäßig mit Mikroplastik beim BUND beschäftigt. Die Nachfrage nach Textilfasern wächst weltweit rasant - schneller als natürliche Fasern wachsen können, die zudem auch nicht unbedingt umweltverträglicher sind. Baumwolle braucht extrem viel Wasser, Viskose extrem viele Chemikalien, um hergestellt zu werden. Für eine Nylon-Liebhaberin wie mich kämen Viskosestrümpfe aber sowieso nicht in Frage.

 

Verstrickt in die Dilemmata des Plastikzeitalters sitze ich also da und überlege: Würde ich jemals von Nylonstrumpfhosen loskommen, wo sie doch im Wortsinne so viele Fallstricke haben? Könnte ich mit nackten Beinen im Leben stehen? Einfach aufhören? "Fétiche" bedeutet im Französischen ja 'Zaubermittel'. Davon loszukommen wird nicht leicht. 

 

 In den folgenden Wochen gehe ich dorthin, wo alle Freaks am Ende landen: ins Internet. Dort will ich herausfinden, wie ich selbst die Feinstrumpfhosen länger im globalen Kreislauf halten kann. Ich finde ich Video-Tutorials, wie man eine Laufmasche mit einem Nylonfaden wieder zusammenzieht – und repariere erstmals erfolgreich eine Strumpfhose. Bloggerinnen zeigen mir, wie aus nicht reparierbaren Exemplaren Haargummis geschnitten, Stirnbänder geflochten oder sogar Oberteile geschneidert werden können. Motiviert vom Geist des gemeinschaftlichen Ressourcenteilens traue ich mich sogar raus mit meinen abgeliebten Exemplaren und gehe zu einer Klamottentauschparty. In einem Gemeinderaum im Leipziger Osten stehen Tische und Kleiderständer quer im Raum. Wer kommt, leert seine Taschen voller alter Pullover, Hosen, Jacken, Schuhe aus. Hauptsächlich Studierende sind im Raum. Es läuft elektronische Musik. Ich lege eine Strumpfhosen in ulkigem Senfgelb auf einen Tisch etwas abseits und lauere hinter einem Ständer voller Jacken, ob sich wohl irgendjemand meines psychologisch obsolet gewordenen Dings noch annehmen mag. Lange passiert nichts, dann höre ich Satzfragmente durch die Jacken hindurch. "Ach, die wollte ich auch gerade..." und "Wow, krasses Teil..." und "Die würde ja gut zu dem Kleid passen...". Um den Tisch stehen drei Freundinnen, die alle meine Strumpfhose am Wickel haben. Werden auch sie bald am kunstseidenen Faden festhängen? Kurz zögere ich, ob ich mich wirklich darüber freuen soll, aber dann wird mir klar, dass es doch genau die Chance dieser Urfaser aller Synthetiktextilien ist: Sie verwebt Menschen und Geschichte miteinander, sie kann immer wieder auferstehen, sie trägt die Ewigkeit in sich. Und die schmeißt man nicht einfach weg.