Männer, die aus Garagen starren

DDR-Garagen sind ein letztes Stück unangetastete ostdeutsche Identität. Wegen eines Gesetzes von 1994 müssen Besitzer bald selbst einreißen, was sie einst gemeinschaftlich aufgebaut haben – für viele eine unerträgliche Demütigung. Haben wir für Garagen in einer enger werdenden, postfossilen Gesellschaft noch Platz?

Der Spiegel
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Fotos: Christoph Busse

 

Kurz bevor die allabendliche Hölle losbricht, steht Lutz Hartung an einem Freitag im Mai auf dem Gehweg. Unter seinem Arm klemmt eine schwarze Aktentasche, die weißen Haare sind sorgfältig zu einem Bürstenschnitt gekämmt. Eine Maus mit gebrochenem Bein kreist hilflos auf dem Asphalt der Straße herum, aber Hartung sieht sie nicht. Der Blick des Rentners folgt einem Auto, das im Leipziger Stadtteil Anger-Crottendorf nach einem Parkplatz sucht. »In ein paar Stunden ist das hier das reinste Chaos!«, sagt der 81-Jährige. Dann stünden Autos teilweise auf den Grünflächen vor den hummerfarben sanierten Neubauten aus DDR-Zeiten – »aus reiner Not!« Nicht jeder habe wie er das Glück, eine Garage zu besitzen, wo das Auto nach der Arbeit sicher untergestellt werden könne. Hartung nickt mit dem Kopf in Richtung der vier Betonzeilen mit braunen Holz-Flügeltüren, eine Anlage wie es sie so oder ähnlich vielfach auf dem Gebiet der ehemaligen DDR bis heute gibt. So unspektakulär die Garagenkomplexe aussehen: An ihnen entzündet sich gerade ein Streit, in dem es nicht nur um Parkplätze geht.

Der Garagenhof mit seinen 179 Garagen soll demnächst weg. Er steht auf wertvollem Bauland der Kommune, die dort unter anderem eine Schule bauen möchte. Hartung hat die Ankündigung in seiner Ledertasche: »eine perspektivische Auflösung des Standortes ist unumgänglich«, heißt es darin. Dass die Kommune den Garagenbesitzern kündigen und mit Beginn des nächsten Jahres sogar den Abriss verlangen kann, liegt an einer ostdeutschen Eigenartigkeit: Die Garagen (genau wie viele Datschen in Kleingärten) der DDR wurden damals von Privatpersonen auf »volkseigenem« Boden errichtet. Mit der Deutschen Einheit wurden die Eigentumsverhältnisse neu geregelt: die Grundstücke wurden wieder an ihre ursprünglichen Besitzer oder deren Nachkommen zurückgegeben oder sie fielen in den Besitz der öffentlichen Hand. Deswegen gehört heute das Grundstück oft jemand anderem als das Gebäude darauf. Um diese Eigentumsverhältnisse zu regeln und auch für eine Übergangsfrist zu sorgen, beschloss die Bundesregierung zum Januar 1995 das sogenannte Schuldrechtsanpassungsgesetz. Man dachte damals, dass Jahrzehnte nach der Deutschen Einheit die schmucklosen Garagen verfallen, die emotionale Bindung daran gelockert und Ostdeutsche nur noch Deutsche seien. Aber das Gegenteil ist der Fall. Am Zaun zu Hartungs Garagenhof hängt ein selbstgemaltes Schild: »Anwohner wehrt Euch!«

Kurz bevor der Bass einsetzt, steht Jürgen Kasek an einem Samstag im April auf einem Rave am Richard-Wagner-Hain. In seiner Hand hält er ein Mikrofon und begrüßt die Feiernden, die um ein schwarzes Stern-Zelt mit DJ-Pult und Boxen herumstehen und bei Musik tanzen. Die langen Haare sind zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, die Hände locker in der Jeans versenkt. Kasek, 42, ist Rechtsanwalt und Mitglied im Stadtrat für die Grünen. Er ist in Leipzig aufgewachsen, hat er seine Kindheit im Ordnungssystem der DDR verbracht, seine Jugend in der Unordnung der Nachwendejahre. In Leipzig ist er dafür bekannt, dass er sich für Freiräume in der Stadt einsetzt, damit diese nicht nur effizient verplant und meistbietend verkauft werden, sondern dort gemeinschaftliches Leben, Arbeiten und manchmal auch Feiern möglich ist. Das Konzept von Garagenhöfen ist ihm fremd, nicht nur, weil er sowieso kein Auto fährt. »Garagen sind abgeschlossene Räume. Für viele jüngere Menschen in der Stadt ist das nichts, wonach sie sich sehnen«, sagt Kasek. Man wolle für die Zukunft gemeinsam nutzbare Flächen etablieren und Stadtteilhäuser bauen. Sein Wahlkreis liegt nicht in den urbanen Hipsterzentren von Leipzig, wo gern gemeinschaftlich geravt wird, sondern in Anger-Crottendorf, einem »verschlafenen Stadtteil, wo die Zukunft bislang nicht hingekommen ist«, wie er sagt. Kasek ist auch Beisitzer des Bürgervereins Anger-Crottendorf und er versuche, die Transformation des Stadtteils zu begleiten, die sich gerade vollziehe. Mehr Parkplätze gehören nicht dazu. In eine ehemalige Fabrik für Buchbindermaschinen werden gerade moderne Wohnungen und Lofts gebaut, eine stillgelegte Bahntrasse wird zu einem begrünten Parkbogen umgestaltet, in einer ehemaligen Feuerwehrwache soll ein Gemeinschaftszentrum entstehen. Direkt dort, wo sich der Wandel gerade vollzieht, steht Hartungs Garagenhof in grau und braun wie ein Denkmal aus einer vergangenen Welt.

Wie viele DDR-Garagen es heute überhaupt noch gibt und wie viele davon aufgrund des Schuldrechtsanpassungsgesetzes abgerissen wurden und werden, lässt sich schwer schätzen. Es gibt keine Statistiken darüber, sondern im Grunde nur einen Verein, der sich 1994 genau wegen der vielen Querelen mit dem Gesetz gegründet hat. Holger Becker ist Sprecher des Verbands Deutscher Grundstücksnutzer (VDGN) und sagt, man müsse zunächst die Philosophie des Gesetzes verstehen, um das Problem der Garagenbesitzer zu erkennen: Es sei nämlich ausschließlich für Grundstücke auf dem Gebiet der ehemaligen DDR gültig, wo es damals oft recht formlos möglich war, dass das Häuschen einem anderen gehört als der Boden, auf dem es steht. »Das ist ein Sakrileg in der BRD!«, ruft Becker, das Prinzip der Erbpachtverträge mal beiseite lassend, »da bricht bei denen ja der Himmel runter!«

Dabei sei das in Dänemark und Israel ebenso übliche Praxis. Mit der Wiedervereinigung wurde – wie in so vielen anderen Bereichen auch – eine Anpassung beschlossen: Die DDR sollte sich dem bundesrepublikanischen Standard angleichen. 1994 wurde das Schuldrechtanpassungsgesetz beschlossen, nach dem Grundstücksbesitzer (meist Kommunen oder Kirchen) ihren Garagenpächtern ab dem Jahr 2000 unter Bedingungen kündigen können. Seit 2015 sind die Einschränkungen weitgehend entfallen. Dafür mussten bislang zumindest Entschädigungen gezahlt werden – diese Regelung fällt aber am Ende des Jahres weg. Und noch etwas ändert sich: Ab Neujahr ist der Garagenbesitzer auch verpflichtet, die Garage auf eigene Kosten abzureißen. »Dahinter steckt die Annahme, dass die Pächter das so zurückgeben, wie sie es einst vorgefunden haben«, sagt Becker. Aber die Flächen für die Garagenhöfe waren häufig unordentliche Brachen, teilweise voller Schutt. »Die Menschen haben sich diese Refugien doch erst selbst erschlossen.«

Wer durch Ostdeutschland fährt, entgeht diesen eher schmucklosen Funktionsbauten kaum. In langgezogenen Reihen stehen sie bis heute in Industriegebieten, an Stadträndern und Plattenbausiedlungen, entlang von Bahntrassen und Kanälen. Architektonisch betrachtet sind die Garagen meist banale Gebäude aus Zement, Ziegelsteinen, Bitumen, Wellblech. Manchmal mit Flügeltüren, manchmal mit Toren, manchmal bunt, manchmal monochrom, aber immer: fest verschlossen. Was die meist männlichen Besitzer in ihrer Einheit von den üblichen 3x6x2,5 Metern verstauen oder darin machen, bleibt dem öffentlichen Blick verborgen. Viele Garagen sind mit mehreren Schlössern und Riegeln gesichert. Vandalismus und Diebstahl sind im ganzen Osten auf den Garagenhöfen keine Seltenheit. Das nährt die Neugier, was hinter den Toren der Männerkäfige und der Garage als Format überhaupt steckt, dass so schützenswert ist.

Im Garagenhof in Anger-Crottendorf führt Lutz Hartung durch die Anlage. Natürlich erinnere er sich an den Parkplatz und das verwilderte Stück Land schräg gegenüber seiner Mietwohnung. Den Trabant hatte er damals am Anfang der Siebzigerjahre schon, Autosbestellungen dauerten Jahre, hatte man erst mal eins, wollte man es möglichst schonen. Also bewarb er sich bei der Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft »Kontakt« um eine Garage und wurde Teil eines Garagenvereins. »Wie wir das hier damals in Eigenverantwortung aufgebaut haben – das war abenteuerlich. Das würde die jungen Leute heute gar nicht mehr hinbekommen!« Dass er die Garage vielleicht wieder abreißen muss, glaubt er nicht. Kampflos passiere das jedenfalls nicht. Weil ihm der Bürgerverein Anger-Crottendorf von Grünen wie Jürgen Kasek unterwandert scheint, hat er mit etwa 50 anderen Anwohnenden wird er jetzt in einem neuen Bürgerverein in Anger-Crottendorf aktiv, der die Anliegen der Autobesitzenden priorisiert. »Die reißen hier alles weg und dann wundern sie sich, dass sich die Leute nicht verstanden fühlen«, sagt Hartung. Es gehe ihm nicht unbedingt seine eigene Garage, die ihn zum Aktivisten mache: »Es geht darum, wie mit uns umgegangen wird.«

Nur 70 Kilometer entfernt von Leipzig zogen bis Anfang Juni 110 Architekturstudierende der Hochschule München durch die künftige europäische Kulturhauptstadt Chemnitz und suchten: Garagen. Sie möchten herausfinden, wie viele es überhaupt in der Stadt gibt, wo sie stehen, wie sie aussehen, was in ihnen passiert. Denn obwohl Garagen zu zehntausenden in Ostdeutschland stehen, sind sie als städtebaulich-architektonische Objekte nur wenig systematisch erforscht. Die Studienleiter Luise Rellensmann, Architektur-Professorin mit Schwerpunkt Bauen im Bestand, Denkmalpflege und Bauaufnahme der Hochschule München, und der Architekt Jens Casper wollen das ändern und eine Geschichte und Typologie der DDR-Garagen erarbeiten. Sie hatten zuvor bereits mit Studierenden verschiedene Garagen in Cottbus vermessen und festgestellt, dass Garagenhöfe merkwürdig unsichtbar sind in der offiziellen ostdeutschen Geschichtsschreibung. In ihrem 2021 erschienen »Garagenmanifest« erklären sie, dass Garagen als »schützenswerte Alltagsarchitektur in den toten Winkel der institutionellen Denkmalpflege« fallen. Zum Kulturhauptstadtjahr Chemnitz 2025 soll sich das ändern, denn Garagen sind für sie die Zeugnisse einer Gesellschaft in Transformation. In ihnen verdichtet sich Geschichte.

Sitzt man mit Lutz Hartung auf seinen bunten Klapp-Campingstühlen zwischen einer furnierten Schrankwand, einem gepflegten Rennrad, abgedeckten Winterreifen, einem Poster mit »Plaste und Elaste Schkopau« und verschiedenen DDR-KFZ-Anhängern kommen auch die Geschichten vorbeimarschiert. Es klopft Peter Gerth, freundlicher Schnauzbart, 65, Dreher, Volvo V40. Er komme gerade von der Arbeit in einem Werk bei Borsdorf. »Seit 51 Jahren im Dienst«, ruft er –, »den Job will ja heute keiner mehr machen.« Er benötige das Auto für die Arbeit – und die Garage für das Auto. »Anders geht das alles doch nicht!« Dass jeder einfach auf Fahrrad und öffentlichen Nahverkehr umsteigen könne, sei ein »ideologisches Muster«. Die nächste Bushaltestelle sei 700 Meter entfernt. Hartung schüttelt ihm dankbar die Hand. Die beiden verbindet keine Freundschaft, sondern etwas, auf dass die DDR aufgebaut war: Zweckgemeinschaften, Nachbarschaftshilfe, Arbeiterstolz. Man half sich auch, weil es sein musste – nicht nur, weil man wie heute dem gleichen Milieu oder einer gemeinsamen Filterblase angehört. Spricht man dreißig Jahre nach der Wende mit Ostdeutschen, vermissen viele den Zusammenhalt und Gemeinschaftlichkeit. Nicht im Sinne von: Sportverein, Chor, Lesekreis, sondern ohne die dazugehörigen Fragen: bin ich Fan, kann ich singen, was wollen wir lesen? Garagenhöfe haben diese Form der pragmatischen Verbundenheit konserviert.

Später winkt Sven Büttner, 44, rasierter Kopf, Tattoos, Dackdecker, YamahaYZF1000, mit einer Zange in der Hand einen Gruß herein. »Tach, Herr Nachbar!« Er wolle gerade einen Ölwechsel am Opel Corsa seiner Mutter machen. Der steht schon auf der Rampe des Garagenhofs. Bereitwillig öffnet er die Türen seiner Garage, in der neben einer ordentlichen Werkbank ein Motorrad und ein Moped stehen. »Ist nicht mehr so viel da«, sagt Büttner entschuldigend. Er habe bereits einiges in seine neue Garage geschafft – falls die Kündigungen schnell kommen. Hartung ist irritiert. Kaum jemand gibt freiwillig in Leipzig seine Garage auf – oft werden sie vererbt. Garagen sind eines der wenigen Immobilienobjekte, die in der Stadt flächendeckend tatsächlich noch ostdeutschen Einzelpersonen gehören. »Draußen in Sommerfeld gibt es so ein neugebautes Caravan-Ding«, sagt Büttner. »Ist alles ein bisschen größer und teurer.« Statt 50 Euro pro Monat Pacht kostet die neue Garage jetzt 200 Euro. Aber die Eigentumsverhältnisse sind dort klar.

Sie gehört einem nordrhein-westfälischen Unternehmer.