Was macht die da im Busch?

Alle reden von Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Eurokrise. Da muss man ja auch irgendwie vorbereitet sein, wenn es richtig knallt. Zum Beispiel mit Urkost. Greta Taubert hat sich einer Radikaldiät unterzogen und gelernt, wie man nur von wild gewachsenen Kräutern und Früchten überlebt.
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Als ich auf dem Klo von Brigitte sitze, brennt mir der Hintern, als würde ich damit Feuer speien. Nur Wasser, gärende Früchte und Erde hängen in meinen Gedärmen, wo sie seit Stunden grummelnd ihren Ausbruch angekündigt haben. Jetzt wollen sie raus. Eine Kerze in Form eines Engels steht auf der Ablage vor mir, die mir einen mitleidigen Blick zuwirft. Ich klappe nach vorn über, der Kreislauf macht nicht mehr mit. Alles dreht sich in meinem Kopf. Ich sehe Bilder von den Schoten der Platterbse auf den Fliesen, die sich in eine Kräuterhexe verwandeln, meine Zunge memoriert den faulen Geschmack der Stink-und Stachelfrucht Durian. Und in meinem Kopf klingt die Songzeile der Talking Heads: „And you ask yourself: How did I get here?“ Mühsam hebe ich den Oberkörper wieder in die Senkrechte. Was hat mich nur dazu getrieben, hier zu landen?

Seit gestern bin ich in das kleine Reihenhaus in der Nähe von Hamburg bei Brigitte Rondholz eingezogen, die sich seit 20 Jahren ausschließlich von Wildkräutern und Früchten ernährt. Wie ein Urmensch: ohne Feuer, ohne Esswerkzeuge und ohne Kundenkarte für den Supermarkt. „Urkost“ heißt das Ernährungskonzept und ist eine radikale Form der Rohkost. Alles wird so gegessen, wie es die Natur auf Bäumen und Boden wachsen lässt – Regentau, Schmutz und Kleinstinsekten inklusive. Für Brigitte ist die vegane Frischkost aus der Natur der Schlüssel zu einem gesunden, glücklichen, einfachen Leben. Für mich sollte es eine Lehreinheit sein, wie ich Nahrung in schlechten Zeiten sammeln und pflücken kann, ohne auf die Versorgungsketten von industrieller Landwirtschaft, Masssentierhaltung und Schleppnetzfischerei angewiesen zu sein, die unsere Erde rücksichtslos ausplündern. Mit dem Vorwand, dass man anders die wachsende Weltbevölkerung nicht satt bekommen kann, werden Böden mit Nitraten und Phosphor erstickt, Pflanzen genetisch verändert und ganze Tierbestände bis zur Erschöpfung gejagt oder gedemütigt. Das schmeckte mir schon lange nicht mehr, aber wie sollte ich sonst satt werden? „Wenn es einmal so weit sein sollte, dass die Ketten zusammenbrechen, schlägt unsere große Stunde“, sagt Brigitte. „Dann wissen wir, wie es auch ohne geht.“

Um mich auf den Ausflug in die radikale Rohkost vorzubereiten, musste ich zuvor zu Hause fünf Tage lang buchstäblich Dreck fressen. Nur Heilerde und Wasser – sonst nichts. Damit sollte mein Körper all die schlimmen Retorten-Lebensmittel der Supermärkte abführen, die ich mir 30 Jahre lang angefuttert hatte. Die Kur zog mir die Kraft aus und die Reserven von den Gliedern. „Du wirst immer dünner!“, sagte Herr F. „Hört das auch irgendwann mal wieder auf?“ Ich zuckte mit den knochigen Schultern. Natürlich hatte ich nicht vor, eine apokalyptische Essstörung zu entwickeln. Aber ich wollte mit jeder Faser meines Körpers verstehen, wie mehrere hundert Menschen in Deutschland nur von Unkraut und Früchten leben konnten. Waren das Freaks? Masochisten? Hungernde?

Brigittes Tag beginnt spätestens um fünf Uhr morgens. Der „Urschlaf“ ist kurz und dauert bei ihr nie länger als sechs Stunden. An unserem ersten gemeinsamen Tag kommt die 62-Jährige fröhlich trällernd die Treppe heruntergehüpft, bindet sich ein Stirnband um den Kopf und zieht sich ein kurzes rosa Top an. Wenn man sie mit müden verquollenen Augen nur verschwommen wahrnimmt, glaubt man die Aerobic-Königin Jane Fonda vor sich zu sehen. In jung. Ihr fettloser Körper strotzt vor Fitness, die Haut ist frisch und gebräunt, wie man es von Naturliebhabern kennt. Normalerweise rollt sie gleich nach dem Aufstehen ihre Isomatte im Garten aus und beginnt mit einem anderthalbstündigen „Ur-Training“. Das ist ein fester Ablauf von gymnastischen Übungen, den es strikt einzuhalten gilt. Rumpfheben, Armkreisen, Hanteln stemmen – die Klassiker. Dazu noch Pflückbewegungen und Affengang, um sich mit dem Urahnen in uns zu verbinden. Als Ur-Neuling darf ich immerhin vorher noch mit einem Strohhalm eine Kokosnuss ausnuckeln. „Die Kokosmilch ähnelt von der Zusammensetzung sehr der Muttermilch“, erklärt Brigitte. „Da braucht man doch keinem Tier die Milch wegnehmen, die nur für deren Kinder gedacht ist.“ Brigitte lehnt jede Art tierischer Lebensmittel ab. Sie glaubt, der Mensch sei ursprünglich ein reiner Pflanzenfresser. Sonst hätte er ein Gebiss mit ausschließlich spitzen Reißzähnen, einen kürzeren Darm, um schnell verderbliches Eiweiß schnell auszuscheiden, und scharfe Klauen. Weil alle Rohköstler kein Lebensmittel über 42 Grad erhitzen, um die Vitalstoffe nicht zu zerstören, müsste sie Fleisch sowieso blutig verschlingen. „Das geht doch gegen jeden menschlichen Instinkt!“ Ich bin eigentlich kein großer Kokosfan, aber nach fast einer Woche Erdfasten ist die Milch wie ein tropischer Sommerregen auf versteppter Ödnis. Offenbar sehe ich derartig ausgemergelt aus, dass ich auch noch die zweite Brust, äh Nuss bekomme. Zum Durchhalten.

Nach dem Training zertrümmert Brigitte die leeren Nüsse in einem alten Kopfkissenbezug auf der Terrasse und ich bekomme das Kokosfleisch. Dann geht es raus in die Ursprünglichkeit: in den Wald. „Jetzt beginnt die schönste Zeit des Tages“, flötet Brigitte, als wir von den Fahrrädern absteigen, mit denen wir eine Viertelstunde gefahren sind. Jeder soll in seinem Tempo eine Stunde joggen. Sie hüpft mit roten Lippen und kurzen Hosen beschwingt über den Waldboden davon. Ich hasse joggen, aber für Urköstler ist es eine Pflichtdisziplin. „Der Urmensch musste damals sehr viel laufen“, erklärt Brigitte und so schleiche ich vorbei an Holzstapeln, Pferdegattern, Wildblumenwiesen. An den Wegesrändern wuchert üppiges Grün, das ich später in ein Glas als Mahlzeit sammeln werde. Ziemlich schön eigentlich. Je länger ich trabe, umso mehr breitet sich eine wilde Landlust in mir aus. Aber das ist unter Großstädtern ja auch gerade sehr en vogue.
Die Organisation Slow Food Deutschland hat einen „Trend zu Wildkräutern“ ausgemacht, der sich zwischen den Hochhäusern und Pflasterstraßen deutscher Städte ausbreitet wie Unkraut. Schon vor über zehn Jahren hat der Koch Ralf Hiener zusammen mit dem Gärtner Olaf Schelle im Umland von Berlin „Essbare Landschaften“ angelegt, in denen sie Wildkräuter für die gehobene Gastronomie kultivieren. Mit durchschlagendem Erfolg. Der Dachverband der Kräuteranbauer Ökoplant e.V. sagt, man komme kaum hinterher, die ständig steigende Nachfrage nach dem wilden Gekräut zu bedienen. Immer häufiger tauchen Wildkräutersalate und grüne Smoothies auf den Speisekarten edler Restaurants auf. Es hat sich herumgesprochen, dass wilde Pflanzen mehr Vitamine und Mineralien enthalten als Zuchtsalate. Die kulinarische Rohvolution kommt aus dem europäischen Norden, wo das „New Nordic Cuisine Movement“ ihren Anhängern das auf den Teller legt, was im kalten Norden auf dem Boden wächst. „Wenn ein Hirsch Moos verträgt, kann man davon ausgehen, dass das ein Mensch auch kann“, sagt der Koch René Redzepi. Sein Restaurant Noma wurde dreimal hintereinander von einem britischen Fachmagazin zum „besten Restaurant der Welt“ gekrönt.

Aber die Lust auf Wildnis geht noch weiter. Immer mehr Deutsche wollen selbst unter die Sammler gehen – und befragen dazu das Internet. Auf der Internetseite mundraub.org haben Nutzer in eine interaktive Landkarte eingetragen, wo es Früchte, Beeren, Nüsse und Kräuter gibt, die frei abgeerntet werden dürfen. Man wolle damit in Vergessenheit geratene Früchte der Kulturlandschaft im öffentlichen Raum wieder in die Wahrnehmung rücken, sagen die Macher. Diese Orte des Gemeinwohls werden im Altdeutschen Allmende genannt. Und die hatte ich natürlich aufgesucht, bevor ich im Juli zu Brigitte fuhr.
In den Sommermonaten zuvor ließ ich mich mit dem Smartphone in der Hand von mundraub.org zu den Obstbäumen und Kräuterwiesen in der Umgebung führen – und lernte meine Stadt ganz neu kennen. Als wäre ich in einem riesigen Garten, sah ich voll beladene Mirabellen- und Maulbeerbäume direkt um die Ecke. Brombeersträucher wucherten. Ampferteppiche rollten sich vor mir aus. Ich erinnere mich, wie ich mich bei einem besonders dicht behangenen Mirabellenbaum vom Parkweg ins Gebüsch verabschiedete und die unversehrten Zwetschgen aufsammelte. Ein älterer Herr mit grauen Locken und braun gegerbter Haut kletterte mir hinterher.
„Was machen Sie denn da?“, fragte er.
„Ich versuche, von dem zu leben, was die Stadt hergibt“, antwortete ich.
„Sind Sie Frutarier?“
„Was ist das denn?“
„Leute, die nur Aufgesammeltes essen. Habe ich im Fernsehen gesehen.“
„Ach so, nein nein. Ich bin Apokalyptikerin.“
„Das ist vernünftig.“

Wir sammelten eine Weile zusammen die Pflaumen in meine Tupperschüssel, setzten uns dann auf eine Parkbank, verkosteten den Mundraub, redeten über das Ende der Welt – und waren ziemlich vergnügt dabei.
Der Mann hatte schon Gruppen beobachtet, die mit einer Kräuterhexe durch den Wald zogen und Unkraut sammelten. Eine Frau dozierte mit Weidenkorb unter dem Arm und einem Tross naturverbundener Städter hinter sich über das, was sie am Wegesrand fand. Kräuterwanderungen gab es mittlerweile in fast jeder Stadt zwischen Friesland und dem Allgäu, und die Kräuterfreunde konnten mittlerweile schon den Nordic-Walking-Gruppen zahlenmäßig Konkurrenz machen. Später im Jahr schloss ich mich jenen Kräuterwanderungen an, in denen sich hauptsächlich Frauen in Wetterjacken und Wandersandaletten, junge Familien und ein paar Naturfreaks pulkten. Sie kritzelten sich Worte wie „Labkraut“ und „Puddingersatz“ auf die Zettel, sackten die zarten Stengel mit den gelben Blüten ein und sahen sehr beglückt aus.

Auf den Wanderungen erzählten mir viele der Teilnehmer, dass sie sich danach sehnten, autarker zu sein von dem, was sie von Lebensmittelhändlern angeboten bekamen. Ehec-Gurken, Nitrofen-Eier, Antibiotika-Garnelen, Mäusekot-Mozarella, BSE-Rinder, Dioxin-Mais. Was konnte man eigentlich überhaupt noch essen? Obst und Gemüse enthielten mehr Pestizide als Vitamine . Brot mit Backtriebmitteln, Suppen mit Geschmacksverstärkern und überall nur Zucker. Die Verunsicherung hatte sich tief eingegraben. Die Kräuterwanderungen sollten sie nicht nur wieder mit heimischen Pflanzen vertraut machen, sondern auch die Fähigkeit stärken, manche Herausforderungen des Alltags selbst lösen zu können, ohne auf andere angewiesen zu sein. Damals dachte ich, dass die selbstgesuchten Blätter das Ernährungsdilemma allenfalls nett garnieren können. Eine punktuelle Lifestyle-Autarkie, mehr nicht. Als ich dann Brigitte kennenlernte, wusste ich, dass die Blätter ein echter Lebensentwurf sein konnten.

Brigitte lebt nicht in einer urzeitlichen Höhle, sondern in einem unscheinbaren Reihenhaus in einer norddeutschen Kleinstadt. Das Mobiliar ist schlicht, der Herd ist mit einer Glasplatte überdeckt. In der Regentonne im Garten nimmt sie hin und wieder ein Bad, aber eigentlich gibt es nichts, von dem sie sich reinigen müsste. „Urköstler schwitzen nicht“, sagt sie. Alles in Brigittes Leben ist seit über 20 Jahren von diesem einen Thema bestimmt: Urkost. Sie begann damit, als sie mit ihrer vierten Tochter schwanger war. Anders als bei ihren ersten Kindern wollte sie dieses Mal keinen Kaiserschnitt, sondern eine natürliche Geburt und eine lange Stillzeit. Aber die Ärzte warnten sie: Es sei ein zu großes Risiko für die damals über 40-Jährige. Brigitte begann, die Schulmedizin zu hinterfragen, suchte nach Alternativen – und fand die Bibel aller Urköstler: den Großen Gesundheits-Konz vom Gründer der Bewegung Franz Konz.
Das Buch ist ein 1455-seitiger Wälzer mit einem gefährlichen Heilsversprechen: „So wirst du völlig gesund.“ Nach Konz’ Auffassung gibt es keine Krankheiten, sondern nur eine selbstverantwortete falsche Ernährung mit Kochkost, die er als „Schlechtkost“ bezeichnet. Krebs, Allergien, Multiple Sklerose – all dem könne man vorbeugen oder es sogar heilen, wenn man sich nur strikt der Urmethodik verschreibt. Es ist ziemlich unangenehm, das Buch durchzublättern. Nicht nur, weil die einzelnen Kapitel mit grausamen Bildern von Tierversuchen und zerfressenen Organen dekoriert sind, sondern weil Konz keinen Platz für Widersprüche in seinem geschlossenen Weltbild duldet. Schulmediziner, Wissenschaftler und Nahrungsmittelhersteller sind seine größten Feinde. Wer auf sie hört, habe es nicht anders verdient als zu leiden und zu sterben. Eine ausgewogene Ernährung ist für Konz beispielsweise „eine schrulle Idee der Eierköpfe in Schlips und Kragen“. Mit dem Richtigen könne man sich gar nicht einseitig genug versorgen. Franz Konz, der zuvor mit dem Ratgeber 1000 ganz legale Steuertricks bekannt geworden ist, erinnert mich ein bisschen an Klaus Kinski: ein kleiner drahtiger Mann mit schütterem blonden Haar, der gern herrische Ansagen macht und unbedingt Recht haben muss.

„Du, Brigitte“, sage ich vorsichtig, als wir zum Mittag frisch gepflückte Knoblauchrauke, Giersch und Vogelmiere um Avocados und Papaya wickeln, „ich finde den Großen Gesundheits-Konz, um ehrlich zu sein, sehr abschreckend.“
„Ach so? Das ist ja interessant. Was genau?“
„Die ganze Art zu Schreiben. Es beleidigt mich als Leser, als dumm und unmündig hingestellt zu werden. Ich bin doch nicht weniger wert als Mensch, nur weil ich gern Kuchen esse.“
„Das finde ich auch. Dafür ist der Franz viel kritisiert worden. Er hat sich auch sehr abfällig gegenüber Schwulen und Behinderten geäußert. Aber man muss da die Lehre vom Lehrer trennen.“
„Warum hat er denn zum Beispiel die Sportübungen so oft mit nackten Mädchen bebildert?“
„In alten Ausgaben hat er ihnen sogar noch Stöckelschuhe angezogen. Das waren oft seine jungen Ehefrauen, die er aus Asien mitgebracht hat. Ich weiß nicht, was das sollte, und habe denen in meinen gekauften Ausgaben Klamotten angemalt.“
„Oh je. Das muss ja ein schlimmer Macho sein. Kennst du ihn persönlich?“
„Ich kannte. Er ist im April 2013 gestorben.“
„Woran denn?“
„Ich weiß es nicht genau. Aber er hatte früher mal Krebs. Vielleicht ist er zurückgekommen.“
„Ich dachte das geht gar nicht, wenn man Urköstler ist.“
„Naja, der Franz hat seine Sucht nach deftiger Schlechtkost nie ganz überwinden können. Tagsüber lebte er strikt urköstlich und nachts stopfte er sich mit Hausmannskost voll und erbrach sich davon.“
„Dann hat er seine Anhänger die ganzen Jahre belogen.“
„Er hat die Urmethodik nur rational als richtig erkannt und war nicht mit dem Herzen dabei. Man muss die Wildis und die tollen Früchte und die Fitness lieben – sonst klappt es nicht.“

Brigitte nimmt eine leuchtend orange Papaya-Scheibe vorsichtig zwischen die Hände und beißt lustvoll hinein. Als ich vorher versucht hatte, die schwarzen Kerne herauszupulen, bekam sie fast einen Herzinfarkt. „Die schmecken richtig pfeffrig-scharf. In Kombination zum süßen Fleisch ist das himmlisch!“ Zu jeder Frucht, die sie von Rohkostversandhändlern aus den Tropen bis hierher importieren lässt, hat sie ein fast erotisches Verhältnis. Die Natur habe eine solche Vielfalt an Geschmäckern, dass sie sich nicht mehr nach Gourmetgerichten zurücksehnt. Duftender Kaffee oder dick beschmierte Butterbrote sind für sie nur noch eine schöne Erinnerung, von der sie sich für immer verabschiedet hat. Ich glaube ihr. Selten habe ich jemanden erlebt, der so vom Glück durchdrungen ist, das richtige Leben zu führen. Außer bei den Zeugen Jehovas vielleicht.

Am Abend auf dem Toiletten-Feuerstuhl lasse ich zusammen mit dem Beutel Kirschen, den ich zusammen mit den „Wildis“, den Wildkräutern, zum Abendbrot verdrückt habe, noch einmal die Zweifel durch mich durchwandern. Hatte ich es hier mit einer Sekte zu tun? Oder war die Urkost eine Essstörung, wie es der amerikanische Arzt Steven Bratmann behauptete. Er formulierte für Menschen mit dem ausgeprägten Verlangen, sich gesund zu ernähren, das Krankheitsbild „Orthorexia nervosa“, nach dem er sich selbst jahrelang von Rohkost ernährt und Patienten mit solchen und ähnlichen Diäten behandelt hatte. Problematisch sei nicht das Gesunde daran, sondern die Ideologie dahinter, dass man damit immun gegen alle Arten von Krankheiten werde. Es ist in der Medizin umstritten, ob es tatsächlich so ein Krankheitsbild gibt. Und wenn ich mir Brigitte so anschaue, wie sie den ganzen Tag singend durch den Wald hüpft und sich von jedem Lindenblatt und jedem Kirschbaum beseelen lässt, dann gibt es sicher unangenehmere Diagnosen.

Der nächste Morgen beginnt wieder mit Urtraining, Wildis, Früchteteller. „Heute lassen wir mal das Joggen aus“, sagt Brigitte. Ich bin erleichtert. „Und brechen gleich mit den Fahrrädern nach Hamburg auf.“ Mir wird schummrig. Das sind mehr als 60 Kilometer. Der Wetterbericht hat Regen vorausgesagt, aber „den Meteorologen müssen wir keinen Glauben schenken“, beruhigt mich Brigitte. Außerdem nehmen wir die Ponchos mit. Um neun Uhr steigen wir auf die Damenräder und strampeln los. Über Bahnübergänge, Baustellen, Waldwege, Fahrradwege an Landstraßen, durch Vororte und an der Elbe entlang. Es ist junisonnig warm. Brigitte zieht ihr T-Shirt aus und bindet sich ihre Strickjacke um den Oberkörper, damit der Wind die nackten Schultern umspielen kann. Ihr BH guckt ein bisschen raus, aber irritierte Blicke stören sie nicht, sondern spornen sie eher an. Wir sind 25 Kilometer fast am Stück durchgeradelt bis zur ersten Früchtepause – und es geht mir gut. Sehr gut sogar. Brigitte stellt ihr Fahrrad ab, macht ein paar Streckübungen an einem Geländer und klettert dann eine Böschung herunter, um die Spitzen des Beifußes und Vogelmiere zu pflücken. Die vorbeispazierenden Rentnerpaare in Poloshirts und Segelschuhen gucken verwundert. „Ich kann eure Gedanken lesen“, trällert sie aus dem Gebüsch. Und zu mir gerichtet: „Die denken, ich bin voll der Freak!“ Ich versuche mich auch in telepathischen Prognosen und lese in den Gesichtern der Wochenendausflüglern Fragen wie: „Was macht die da im Busch?“, „Hat sie sich das Blatt gerade in den Mund gesteckt?“, „Kann man das essen?“, „Sollte man das?“, „Warum?“.

Obwohl ich am gestrigen flotten Abend beschlossen habe, doch lieber wieder auf Erde umzusteigen, bekomme ich beim Blick in den Fressbeutel richtig Appetit. Reife grüne Avocados, die wir uns mit Schale in den Mund schieben. Herzhafte Safus, die manche Urköstler an Salamipizza erinnert. Paranüsse, luftgetrocknete schwarze Oliven, frische Erdnüsse. Und immer wieder Wildis: Die scharfe Knoblauchrauke ersetzt jedes Gewürz, Platterbsen erinnern an frische Zuckerschoten, milde Lindenblätter sind der ideale Beilagensalat. Irgendwie hat das Zeug was. Vor allem offensichtlich geheime Superkräfte, die mich zu ungeahnten körperlichen Höchstleistungen antreiben. Ich habe es bis hierher geschafft – und ich will weiter. „Wenn du dir heute Morgen Toast und Eier reingezogen hättest und jetzt zum Mittag Braten und Kartoffeln, sähe das anders aus“, sagt Brigitte triumphierend. Ich gebe es ungern zu, aber sie hat vermutlich Recht. Während die Ausflügler neben uns auf der Bank Fischbrötchen, Wiener oder Waffeln auspacken, leckern Brigitte und ich uns durch das rohe Buffet und kichern wie junge Mädchen. Kein Neid überfällt mich, keine Heißhungerattacken wallen auf.

Eine Frau mit grauer Blumenkohlfrisur und quellendem Bauchfett nimmt neben uns Platz. Sie dürfte in etwa so alt sein wie Brigitte. Und trotzdem ist sie erschreckend anders. Die Blumenkohlfrau stellt einen Rollstuhl mit einer wächsernen bleichen Frau neben die Bank, dreht sich zu uns, sagt: „Ach, das ist ja schön, wie sie so mit den Rädern unterwegs sind. Früher, als mein Mann noch lebte, habe ich das auch gern gemacht. Aber jetzt ... ja, ich war schon lange nicht mehr draußen. Nur ein paar Runden mit meiner Mutter.“ Wir schwiegen, was sie nicht bremst. „Ich würde auch so gern mal wieder draußen sein, lachen und Spaß haben. Vielleicht sollte ich mal ein Lachseminar besuchen.“ Dann hievt sie sich hoch und schiebt mit mühsamen Schritten den Rollstuhl und sich zurück in ihr unglückliches Leben. Es war traurig.

Auf der weiteren Fahrt überlege ich: Würde mich die Urkost auch in guten Zeiten zum besseren Leben führen? Mich von der Mühsal des Schicksals befreien? Könnte es verhindern, dass ich irgendwann eine Blumenkohlfrau werde? Brigitte glaubt, dass sie es mit ihrem Lebensstil schaffen kann, 150 Jahre alt zu werden – und fit zu bleiben. „Es gibt ja keine verlässlichen Aufzeichnungen darüber, wie alt unsere Urahnen tatsächlich geworden sind. Aber in der Bibel, dem Buch der Bücher, werden manche sogar 800 Jahre alt!“ Mich überzeugt das Argument nicht wirklich, aber etwas an der Perspektive ist interessant: Brigitte glaubt, noch mehr als die Hälfte ihres Lebens vor sich zu haben. Sie will mit dem Fahrrad bis nach Asien fahren und sich nur von dem ernähren, was am Wegesrand wächst. Bücher schreiben. Ihr Haus verkaufen. Sich Tierbefreiern anschließen. Yoga ausprobieren. Mit einem Wohnmobil der Sonne hinterherfahren. „Ich hänge nicht an meinem Besitz“, sagt sie. „Mir reichen wilde Kräuter und ein paar Obstbäume zum Glück.“ Sie ist frei.

Die Fahrradkilometer des Ausflugs ziehen so schnell vorbei wie die folgenden zwei Tage des Ausflugs in die Urkost. Jeden Morgen wache ich genau um 4.23 Uhr auf – ohne, dass ein Wecker klingelt. Ich erfreue mich am Urtraining, dem Urwald, der Urkost, der Ursprünglichkeit. Es geht mir so gut wie schon lange nicht mehr. Als ich abreise, gibt mir Brigitte den größten Schatz mit, den sie in ihren Truhen verwahrt: zwei Beutel frischer Tropenfrüchte und Kräuter – damit das Ankommen in meiner Welt nicht so schwer fällt. Ich verstehe warum, als ich die Haustür zu meiner Wohnung öffne. Da sitzen acht Freunde an einer voll beladenen Tafel. Pasta, Käse, Schokolade, Wein – das Beste der Schlechtkost ist da versammelt. „Damit du wieder zu Kräften kommst“, rufen sie. „Setz dich, iss endlich mal wieder was!“ Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich freue mich, wieder zurück bei meinen Leuten zu sein. Aber nicht bei meinen alten Essgewohnheiten. Soll ich jetzt Wasser predigen, während sie Wein trinken?

Die Urkost war eine unglaubliche Erfahrung: Ich lernte, unabhängig von industrieller Lebensmittelproduktion zu sein und das auch noch als einen Gewinn zu empfinden. Mit Brigitte fühlte ich mich autark und fit zugleich. In der Apokalypsenvorbereitung also ein echter Fortschritt. Doch als ich meine Freunde mit rotglühenden Gesichtern vor mir sitzen sehe, weiß ich, dass ich nicht schon jetzt – vor dem finalen Crash – die verrückte Kräutertante mit der Tupperdose voll Selbstgesammeltem sein will. Essen ist mehr als die reine Nahrungsaufnahme, sie ist ein soziales Erlebnis. In dieses möchte ich die wilde Kost integrieren. Vorsichtig stelle ich meine Früchte und das Kräuterglas ab. Die Tischversammlung legt ihre Gabeln weg und fängt an, sich durch die fremden Stengel und Fruchtkörper zu kosten. Ich, setze mich an die Tafel, nippe an einem Glas roten Wein, der sich wie ein Feuerstrahl in mir ausbreitet – und weiß, wo mich das hinbringt. Die innere Musikplatte springt wieder an: „And you ask yourself: How did I get here?“