Ich, ich, ich und ich

Seit Jahren werde ich verwechselt. Woran liegt das? Und wer sind die Frauen, mit denen ich offenbar markante Merkmale teile? Eine Reise zu meinen Doppelgängerinnen

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Ich war's wirklich nicht. Diesen Satz habe ich schon als Jugendliche häufiger sagen müssen – allerdings nicht, um eine Schuld abzustreiten, sondern weil ich so oft verwechselt wurde. „Ich hab dich gestern im Bäcker gesehen, aber du hast genervt weggeguckt.“ Oder: „Seit wann gehst du denn samstags in den Hühnerhof? Du wurdest mit so einem Lederrocker gesehen!“ Oder: „Du hast dich auf den Oberarmen tätowieren lassen und uns nichts davon gesagt?“ Das mit dem Bäcker hätte vielleicht noch sein können, aber Lederrocker? Hühnerhof? Tattoos? Ich war das nicht! Wirklich nicht! Hatte ich eine Doppelgängerin? Oder sogar mehrere? 

Seit der Lektüre von Erich Kästners „Das doppelte Lottchen“ und Enid Blytons „Hanni und Nanni“ hatte ich mir immer eine Zwillingsschwester gewünscht. Aber in dem Moment, wo in mir zum ersten Mal der Verdacht reifte, es könne da draußen eine Doppelgängerin geben, fühlte sich das gar nicht so aufregend an. Ich bin im Thüringer Wald aufgewachsen. Die nächste größere Stadt hat 30 000 Einwohner – wie kann ausgerechnet in so einer menschenarmen Gegend jemand mit meinem Gesicht rumlaufen? Und überhaupt: Mein Vater sagte doch, ich hätte das typische Taubert-Gebiss, meine Mutter nannte mich liebevoll „freche Nase“, weil die Form meiner Nase so gut zum meinem Charakter passe. Und nun gab es das nochmal! „Was ist das denn für eine Trulla, die da einfach mit meinem Gesicht rumläuft?“, dachte ich damals. Als ob es so etwas wie ein Recht auf Unverwechselbarkeit gäbe und sich die Einzigartigkeit des Menschen von Nase, Augen, Mund ablesen lassen müsste.
Bei der theoretischen Führerscheinprüfung war es dann soweit – ich saß im selben Raum mit einem Mädchen, das mir verblüffend ähnlich sah. Wir guckten uns an und riefen, gleichzeitig starr vor Schreck: „Du?!“ Auch sie musste sich lange mit den Auswirkungen meiner Existenz als Gesichtszwilling herumgeschlagen haben. Es war nicht zu leugnen: Wir hatten die gleichen blaugrauen Augen, die gleiche Nase und eine ähnlich hohe Stirn unter einer blonden Mähne. Ein Gesicht, zwei Fremde.


Die Wahrscheinlichkeit, dass wir einem Doppelgänger begegnen, liegt laut einer Studie der Adelaide Medical School aus dem Jahr 2015 bei eins zu einer Billion, also fast bei null.  Die Forscher hatten rund 4000 Gesichter einer anthropometrischen Datenbank des US-Militärs nach acht biometrischen Merkmalen vermessen und untersucht, ob darunter Gesichter waren, die sich komplett glichen. Ergebnis: nein. Auch andere Gesichterstudien mit größerer Grundgesamtheit stellten fest, dass die Verteilung der Merkmale beim Menschen so einzigartig ist, dass damit eine so genaue Identifizierung möglich ist wie mit einem Fingerabdruck. Liest man Gesichter strikt biometrisch aus – misst also die Abstände zwischen bestimmten Punkten – sind sie so unverwechselbar, dass die Daten mittlerweile zum Handy-Entsperren, Bezahlen und zur Identifikation bei Grenzkontrollen eingesetzt werden. Reduziert man die Anzahl auf nur vier gleiche Gesichtsmerkmale, ist die Wahrscheinlichkeit einen Gesichtszwilling zu finden, deutlich höher, aber immer noch winzig: Sie liegt bei etwa eins zu einer Million. Wie sich bald herausstellte, war das Mädchen von der Führerscheinprüfung jedoch nur meine Doppelgängerin Nummer 1.


Als ich in die Welt hinauszog und erst in Leipzig und später in Berlin und Hamburg lebte, setzten sich die Doppelgänger-Erlebnisse fort. Eine Zeitlang wurde ich zum Beispiel auffällig häufig von meinen Freunden am Helmholtzplatz in Berlin gesichtet, obwohl ich zu dieser Zeit schon nicht mehr in der Hauptstadt lebte. Wieder musste ich beteuern: Ich war's nicht! Einmal war ich auf einer Sonnenwend-Zeremonie in Brandenburg und unterhielt mich mit einem Hippie, der nach einer halben Stunde vertrauensvoller Unterhaltung seufzte: „Hach, Marie“ – er hielt mich für seine Heilarbeiterin. Ich erinnere mich an wilde Diskussionen in Griechenland, wo mir ein Mann einreden wollte, er kenne mich oder zumindest meine Zwillingsschwester doch schon ewig. Schließlich  wurde ich sogar mal von einem Türsteher vor einem Club aussortiert, weil ich angeblich das letzte Mal Stress gemacht hätte. Ich beschwor ihn, dass das nicht sein könne, ich sei ja überhaupt das erste Mal da, doch er entgegnete mir achselzuckend: „Aber eine von deiner Art!“ Bis heute, mit 37 Jahren, werde ich mindestens einmal im Monat verwechselt und muss erklären: Ich ist meistens eine andere.


Wenn mir das passiert, frage ich mein Gegenüberjetzt immer, ob sie meine Doppelgängerin kennen, und falls ja, lasse ich mir den Namen oder gleich Kontaktdaten geben. So ist eine ganze Liste von Gesichtsschwestern entstanden, die ich über Facebook oder Instagram gesucht und kontaktiert oder auch gleich angerufen oder angeschrieben habe, ob sie zu einem Treffen bereit wären. Nicht alle habe ich aufspüren können – eine Strandverkäuferin auf La Gomera blieb nach einem kurzen Mailwechsel abgetaucht. Eine kanadische Jazzsängerin schaltete ihre Agentin ein, der Kontakt kam nicht zustande. Eine Clownin antwortete erst gar nicht, vielleicht war ihr die Sache zu albern.
Von einem Dutzend Doppelgängerinnen blieben fünf übrig, und diese waren bereit, mich zu treffen. Alle sind, so viel weiß ich bereits, bevor ich zu meiner Reise durch Deutschland aufbreche, soziodemographisch sehr unterschiedlich verortet. Sie leben auf dem Dorf, in Vororten, Kleinstädten oder Metropolen, haben große Familien oder einen Partner, die Altersspanne reicht von 27 bis 54 Jahren. Eine bekannte rechte Publizistin ist ebenso darunter wie eine linke Aktivistin.


Als ich zu meiner ersten Doppelgängerin auf der Liste fahre, bin ich schon lange nicht mehr Fremden gegenübergestanden und habe ihre Gesichter betrachtet. Die pandemische Welt ist hinter Masken verschwunden. Vermummt steige ich in den Zug nach Berlin, nehme dann die S-Bahn bis zur Stadtgrenze. Berlin-Frohnau, Vorgärten mit Kiefern und Jägerzäunen bis an den Waldrand, hinter dem Brandenburg beginnt. Meine Freunde sagen, dass ich eigentlich in so einem Teil Deutschlands hätte geboren sein müssen, so sehr liebe ich diesen sandigen Boden, den süßen Duft der Bäume und das irgendwie wärmere Licht.  
Ein hoher Zaun, gleich neben der Bushaltestelle. Ich klingele. Ein zotteliger Irish Terrier kommt auf mich zugerannt und lenkt mich von diesem ersten wichtigen Moment ab, auf den ich so lange gewartet habe. Ich habe eigens nicht im Netz nachgeschaut, wie diese Frau aussieht, ich wollte überrascht werden. Als ich den Kopf hebe, steht da Antje Gellert, eine mittelgroße, mittelalte Mitteleuropäerin, die mittelblonden Haare zu einem Knuddel verdreht. Wir mustern uns kurz. „Naja, ja, vielleicht“, stottern wir gemeinsam. „Die Augen!“, sage ich. „Der Mund!“, sagt sie. Naja, ihr Mund ist kleiner als meiner, aber wir haben immerhin ähnliche Schlupflider. Aber wir sind beide nicht ganz überzeugt. Uns verbinde eine „wundervolle offene Art“, hatte ein Bekannter von mir gesagt, er und Antje waren vor Jahren mal ein Paar. Er schwor, ich sei „ganz genau wie sie. Aber wirklich hundert Prozent!“ Erst später sehe ich auf den Fotos, die wir von uns gemacht haben: Wenn wir lachen, sehen wir tatsächlich sehr ähnlich aus.


Antje Gellert, 41, ist Key Account Managerin im Vertrieb  der Deutschen Bahn, eine Tochter, Patchwork-Familie mit zwei weiteren Kindern. Sie sagt, ihr Partner habe sie für verrückt erklärt, mich einfach so reinzulassen. Bestimmt wolle ich ihr irgendwas andrehen. „Aber ich finde solche verrückten Ideen lustig.“ Frohnatur! Sie führt mich auf ihre Terrasse, türkischer Kaffee dampft auf dem Tisch. Sie plaudert los, als käme ich seit Jahren immer Dienstags auf einen Schwatz vorbei.
Auch Antje Gellert wird verwechselt. Sie zeigt mir Bilder ihrer Gesichtsschwestern auf Facebook. Wenn man nur flüchtig guckt, sehen sie mir auch etwas ähnlich. Ist es ein Effekt der sozialen Netzwerke, dass Menschen immer die gleichen Posen einnehmen und sich so leichter ähnlich sehen? Oder haben wir etwa ein Allerweltsgesicht?

„Ja“, meint der Kognitionspsychologe Brad Duchaine vom Dartmouth College im US-Bundesstaat New Hampshire, der über menschliche Gesichtserkennung forscht. “Ich vermute, dass Sie ein biometrisch durchschnittliches Gesicht haben“, schreibt er mir – obwohl er mein Gesicht nicht mal gesehen hat. Schon seit langem sei in der Forschung bekannt, dass sich Menschen eher markante Gesichter merken können. Hat jemand auffällige Augenbrauen, einen großen Leberfleck oder eine markante Stirn, wird er meist schnell erkannt. Falls nicht, wird er schneller verwechselt. Jene Menschen kann man sich schwerer einprägen, deren Merkmale besonders durchschnittlich sind. „Aber sehen Sie es positiv“, schiebt Duchaine hinterher, „solche Gesichter werden tendenziell als attraktiver wahrgenommen.“ Ich mache ein Selfie von Antje Gellert und mir, um unsere beiden Gesichter mithilfe einer Morphing-App übereinanderzulegen.

Die These, dass Durchschnittsgesichter überdurchschnittlich schön sind, hat der Mathematiker Francis Galton bereits 1878 aufgestellt, als er Verbrechergesichter auf Fotopapier übereinander belichtete, um so einen „typischen Kriminellen“ zu stereotypisieren. Quasi nebenher bemerkte er, dass die übereinander gelegten Durchschnittsgesichter in seiner Wahrnehmung oft besser aussahen als die Originale. Der Wiener Ethnologe Karl Grammer widersprach später allerdings und behauptete, dass nur Durchschnittsgesichter von Frauen attraktiver wirkten. Männliche Mittelgesichter seien nicht unbedingt anziehender. Ich gucke auf das Foto des Zwischenwesens von Antje Gellert:  gemeinsam haben wir ihre etwas rundere Gesichtsform, ihre stärker betonten Augenbrauen.  Ich vergrößere etwas den Mund. Außerdem glättet der Morph Hautunreinheiten oder Rötungen.  Ob wir zusammen schöner sind als jeder für sich, kann ich nicht objektiv einschätzen. Aber künstlich glattgeschliffene white-privilege-Gesicht finde ich idealtypisch selten schöner als markante Charakterköpfe.


Meine zweite Doppelgängerin ist Charlotte, ihren Nachnamen möchte sie hier nicht verraten – Lehramts-Studentin für Biologie und Kunst, linksalternative Aktivistin, keine Kinder. Sie ist zehn Jahre jünger als ich und sitzt in kurzen Stoned-Washed-Jeans und einem abgeschnittenen Achselshirt im Schneidersitz auf einer Wiese im Leipziger Lene-Voigt-Park, wo wir uns verabredet haben. Um uns herum Hipster, Bobos, Alternative. Wir haben uns inmitten des Gewusels zumindest gegenseitig gleich als Gesichtsschwestern erkannt, auch wenn ihre Haare eher rotblond und meine eher strubbelig sind. Unter ihren Augen sind Sommersprossen, unter meinen Ringe. Es gibt Ähnlichkeiten, aber frappierend sind sie nicht. Ich fühle mich ein bisschen geschmeichelt, dass mich ein Student vor einem Jahr auf der Straße mit ihr verwechselte und überschwenglich winkte. Ich legte eine Vollbremsung mit dem Fahrrad hin, klärte die Verwechslung auf und ließ mir seine und ihre Nummer geben. Gleichzeitig, ärgere ich mich über diesen unemanzipierten Reflex, gern jünger wirken zu wollen.

Ich frage sie: „Machst du dir oft Gedanken um deine Wirkung auf andere?“ Sie antwortet: „Je wichtiger mir der Kontext ist, um so stärker achte ich darauf: Passe ich hier dazu?“ Das bedeute aber nicht, sich für fremde Menschen aufzuhübschen. Keines der Kleidungsstücke, die sie trage, sei gekauft, sondern durch ihr Hausprojekt mit 21 anderen Menschen im Leipziger  Osten zirkuliert. Dort gehört eine konsumreduzierte, nachhaltige, feministische Lebenseinstellung zur Grundausstattung.
Ich hatte Charlotte gebeten, ihre Kosmetiktasche mitzubringen, um zu sehen, ob wir nicht nur ähnliche Gesichtszüge, sondern auch Gesichtsprodukte haben. Viele meiner Doppelgängerinnen wollen natürlich wirken, aber jede hat ihre kleinen Gimmicks. Sie packt aus: Haarseife, Aftersun-Creme, Holz-Zahnbürste. „Mehr nicht? Kein Lippenstift? “, frage ich und muss an den Spruch denken, den ich mal auf einer Kühlschrankkarte gelesen habe: „Mit 20 hat jeder das Gesicht, das ihm Gott gegeben hat, mit vierzig das Gesicht, das ihm das Leben gegeben hat und mit sechzig das Gesicht, das er verdient.“


Mein zukünftiges Gesicht guckt aus einem Fenster im zweiten Stock eines Weimarer Altbaus, winkt und ruft „Huhu!“ Doppelgängerin Nummer 3 ist deutlich älter als ich.
Ich stehe unten im Garten mit meinem Kumpel Josa. Er grinst unsicher, aber letztlich hat er sich das hier selbst eingebrockt. „Du bist wie meine Mutter!“, hatte er vor ein paar Jahren zu mir gesagt und ich war irritiert.  „Ey, das war ein Kompliment“, entgegnete er. „Meine Mutter ist toll!“
Worauf achtet jemand, wenn er einen Menschen ansieht? Der Gesichtsforscher Duchaine – der mir Durchschnitt attestiert hatte – sagt, dass die Fähigkeit, Gesichter zu erkennen, sehr verschieden sei. Es gibt Menschen, die selbst vertraute Gesichter nicht erkennen. Und es gibt Menschen, die ein Gesicht niemals mehr vergessen. Zu welcher Fraktion gehört Josa? Leider sei es nicht so leicht möglich, herauszubekommen, ob ein Gegenüber ein Superrecognizer oder ein Gesichtsblinder sei, erklärte mir Duchaine. „Die Menschen können darüber keine zuverlässige Selbsteinschätzung abgeben.“

Ich gucke hoch zum Fenster – und erkenne mich nicht sofort in diesem Gesicht. Josas Mutter Sibylle hat eine weniger freche Nase und und einen weniger großen Mund als ich. Aber von ihr gehen eine jugendliche Fröhlichkeit und eine große Offenheit aus. Vermutlich hat uns Josa auch nicht so verglichen, wie man zwei Fotos betrachtet. Er kennt uns beide so gut, dass er etwas anderes sieht. Weil lebendige Gesichter ständig mimisch in Bewegung sind, verdichten sich ihnen Empfindungen, Gefühle, Persönlichkeit. Schauen wir in ein Gesicht, dann schauen wir auch in das Wesen eines Menschen.


Als ich Josa vor diesem Besuch fragte, wie er seine Mutter beschreiben würde, murmelte er etwas von „outgoing Ostpragmatikerin“ und „große, blonde Superfrau“. Obwohl er wohl von allen Gesichtern der Welt das mütterliche am längsten angesehen hat und an ihr überhaupt erst das Gesichtererkennen gelernt hat, fiel es ihm schwer, es zu beschreiben. „So lange ich zu Hause in Weimar gewohnt habe, war meine Mutter ja lange einfach nur das: Mutter. Den Menschen hinter dieser Rolle lerne ich erst allmählich zu sehen.“ Sibylle Mania, 54, ist Künstlerin. Sie ist in zweiter Ehe verheiratet und hat drei Söhne, sie führt mich durch ihr Leben: der wilde Garten („da mach ich nüscht!“), das Keramikatelier des Mannes in der Belle Etage („der ist Professor an der Burg in Halle“), ihr Fotozimmer – sie fotografiert auch –, die Schreibtische, das Esszimmer voller Ölgemälde, Wandteller, Radierungen („damit experimentiere ich gerade“), die Kinderzimmer, den Dachboden voller Antiquitäten. Selbstporträts oder überhaupt Kunstwerke, die Menschen zeigen, gibt es wenige. Wir blättern in einem kürzlich erschienenen Bildband, in dem Sybille Mania Ateliers fotografiert hat. Die Räume sagten ja auch viel über Künstler, findet sie. Vielleicht ist das so ein Künstler-Ding: Sie glaubt, man könne ihr Wesen in ihrer Arbeit , im Werk am besten ablesen – gewissermaßen ihr künstlerisches Gesicht, gegossen, eingekratzt, belichtet oder geformt im Material. Da ist es doch, das Antlitz, guck!


Die Besuche bei meinen Doppelgängerinnen fühlen sich schnell so an, als würde ich Freundinnen besuchen. Nur bei einem Namen auf der Liste zögere ich eine Gesichts-Verschwesterung hinaus. Es ist Ellen Kositza, 47, Publizistin, Mutter von sieben Kindern, sie lebt in Schnellroda in Sachsen-Anhalt. Ihr Mann Götz Kubitschek und sie gelten als führende Vertreter der Neuen Rechten. Der Antaios Verlag, in dem sie als Lektorin arbeitet und auch eigene Bücher herausbringt, wird vom Bundesamt für Verfassungsschutz wegen des Verdachts verfassungsfeindlicher Bestrebungen beobachtet.
Mit Kositza wurde ich auf einer Buchmesse-Party von einer Schriftstellerin verglichen, die ich sehr schätze. Der Vergleich war trotzdem ein echter Brocken. Einige meiner Freunde sagten, dass ich sie nicht besuchen sollte. Weil man mit „solchen Leuten“ nicht spricht. Weil man sie nicht in den Medien normalisieren soll. Weil es vielleicht sogar gefährlich sei, in ein Sachsen-Anhaltinisches AfD-Nest zu fahren.


Allerdings bewirkten diese Argumente geradezu das Gegenteil. Kositza ist DAS weibliche Gesicht der europäischen Rechten – und soll mir zum Verwechseln ähnlich sehen.
Die ganze Familie sei „verrückt nach Gesichtszwillingen“, schreibt mir Kositza vorab in einer Mail. Ihre Tochter habe in der Küche einmal eine ganze Wand mit Lookalikes von Familienmitgliedern angepinnt gehabt, ihr Mann etwa sehe aus wie Heino Ferch. Vor Jahren wurde Kubitschek laut eigener Aussage auf der Frankfurter Buchmesse auch mal so hartnäckig von einem Fan mit Benjamin von Stuckrad-Barre verwechselt, bis er als solcher ein Autogramm gegeben habe. Kositza selbst habe sich zuletzt in einem Tatort in der Schauspielerin Tina Seydel wiedergefunden. „Wenn wir einen Doppelgänger entdecken, können wir uns richtig reinsteigern“, schreibt sie. Ich bin also tatsächlich eingeladen.


Und so fahre ich nach Schnellroda, trete ein ins gelb gestrichene Bauernhaus mit den vergitterten Fenstern im ersten Stock. Die Sonne scheint auf den Kaffeetisch unter Bäumen, die Katze schläft mit ihren winzigen Jungen im Körbchen, die Kinder tollen durch den Garten, der Hausherr kommt zum Gespräch dazu und schafft Bücher aus der Bibliothek heran. Alles so idyllisch – aber hinter meiner Stirn pulsiert der Gedanke, dass das kein normaler Kaffeetisch ist, sondern ein geistiges Zentrum des Rechtsextremismus.
„Sind Sie auch gern geritten früher?“, fragt Kositza. Und geschwommen? Sind Sie Schütze? Ist Ihr Element auch Feuer? Kommen Ihre Vorfahren auch aus Schlesien? Haben Sie als Jugendliche etwa nicht viel rebelliert?“ Wir ähneln uns in diesen Punkten nur wenig, außer dass Kositza genauso energisch fragt und offen antwortet. Sich mit anderen schreibenden Frauen zu identifizieren sei leicht, sagt sie. Man sei sich ja sowieso ähnlich in Beobachtungsgabe und Ausdrucksvermögen. Manchmal forme sie in Gedanken einen geheimen Zwilling: eine andere Variante von sich. Wer wäre sie, wenn sie keine sieben Kinder hätte, wenn sie nicht in der Schulzeit nach rechts abgebogen wäre, nicht in der Zeitschrift „Sezession“ und im Antaios-Verlag ihres Mannes die intellektuellen Schriften der Identitären Bewegung mitproduzierte? „Ich würde ja auch gern mal so eine Zwillingsreportage schreiben“, sagt sie. Einfach überall hinfahren und mit Menschen sprechen. „Aber das kann ich nicht.  Egal, wo ich hingehe und was ich tue, bin ich immer zuerst die Rechtsalternative. Ich bin auf meine Themen und mein Publikum festgelegt.“ Mein Mitleid hält sich so sehr in Grenzen wie ihre Reue. Ist Kositza mein geheimer autoritärer Zwilling, der in jedem und jeder Deutschen steckt?


Wir begucken uns, und obwohl Kositza zehn Jahre älter ist, sieht sie mir tatsächlich verblüffend ähnlich. „Wir haben Pferdegesichter“, sagt sie und wir lachen, dabei meint sie es ernst. Sie ist bekennende Lookistin – zieht also Rückschlüsse vom Äußeren eines Menschen auf dessen Charakter. Die meisten Menschen mit Grübchen, die sie kenne, seien zum Beispiel sehr materialistisch eingestellt. Intellektuelle Geisteswissenschaftler gingen häufig leicht nach innen – so wie sie selbst. Schon Aristoteles hat das gemacht,  im Mittelalter wurde das Prinzip von Astrologen verteidigt: Hat jemand ein Löwengesicht, ist er tapfer, sieht er aus wie ein Bullenbeißer, ist er beharrlich und so weiter. Was man Pferden nachsagt, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass dieses Gesichterdeuten im späten 18. Jahrhundert von dem Zürcher Pfarrer Johann Caspar Lavater weitergetrieben wurde, der anhand der Gesichtszüge dem menschlichen Wesen auf die Spur kommen wollte. Feste Lippen, fester Charakter. Hohe Stirn, große Intelligenz. Daraus ist später die Pseudowissenschaft der Physiognomik entstanden, die rassistische Biologie mit vermeintlichen Fakten begründete. „Dieses Gebiet finde ich sehr interessant“, sagt Kositza. „Nicht um da etwas genetisch zu sortieren, sondern im Sinne der Menschenkunde.“


Dieses brandgefährliche Auslesen und Ausdeuten von Gesichtern hat seit einigen Jahren wieder Konjunktur im Bereich der experimentellen Psychologie. Der Gesichtsforscher Paul Ekman hat auf der Basis von sechs Basisemotionen eine Art Codebuch geschrieben, auf dessen Grundlage heute Computer unsere Gefühle auslesen könnenEmotions- sowie Gesichtserkennung im digitalen Raum entscheiden mittlerweile darüber, wer wir sind, wie wir uns fühlen und ob wir als legal, solvent und gut wir eingeschätzt werden.


Beispielsweise ermöglicht das automatisierte Grenzkontrollsystem EasyPASS Vielreisenden, sich selbst an deutschen Flughäfen mit Gesichtsscannern zu kontrollieren, statt sich von Grenzbeamten mustern zu lassen.  Am Berliner Bahnhof Südkreuz testete die Bundespolizei 2018 zuverlässig die Gesichtserkennung im öffentlichen Raum funktioniert. Das Innenministerium sah darin „einen wesentlichen Mehrwert für die polizeiliche Arbeit“. Und in China erprobt die Metro der Stadt Shenzhen derzeit automatisches Bezahlen mit Kameras, die die Gesichter der Passagiere erfassen.
Der Markt wächst gewaltig - von 3,2 Milliarden Dollar im Jahr 2019 auf geschätzte 7,0 Milliarden Dollar im Jahr 2024. Das digital erkennbare Gesicht wird also von Jahr zu Jahr wertvoller. Ich frage mich: Werden die Algorithmen mich auch verwechseln?


Ich lade mein Foto bei Google hoch und mache eine sogenannte Rückwärtssuche. Die Suchmaschine findet über 200 Bilder – die meisten zeigen mich, die anderen Gesichter sind zumindest auf einer bestimmten Webseite zusammen mit meinem Bild aufgetaucht. Auch Apple kennt mein Gesicht mittlerweile so gut, dass in den automatisch angelegten Personenordnern meines iPhones niemand falsch zugeordnet wird. Erst bei Facebook, das Fotos ebenfalls ohne fremde Hilfe sortiert, finde ich eine einzige falsche Vertaggung eines meiner Fotos: mit Martina Weber, 34, Hörfunk-Autorin, keine Kinder – und meine liebste Nachbarin. Sie wohnt im Zentrum von Leipzig eine Querstraße weiter und wir sehen uns oft.


Ich schicke ihr einen Screenshot, sie schickt ein Herzchenaugen-Smiley und die Nachricht zurück: „Endlich der Beweis! Same same!“ Erst jetzt wird mir klar, wie sehr wir einander gleichen: Auch Martina ist der Typ Pferdegesicht – wenn man Ellen Kositza folgen möchte. Nur noch ähnlicher. Wir tauschen manchmal sogar unsere Kleidung, wie es auch Charlotte mit ihren Mitbewohnerinnen tut. Und sie wohnt sogar in meiner alten Wohnung – dem erweiterten Ausdruck des Selbst, wie ich es von Sybille, der Künstlerin aus Weimar, gelernt hatte. Die vielen Gesichter des Selbst sind bei uns sehr ähnlich – ausgerechnet eine Maschine hatte das erkannt.


Nach Ende dieser Recherche war ich mit Freunden auf einem Rave. Ein Mann stand mit uns im Kreis, den ich noch nie gesehen hatte. Er sagte: „Erinnerst du dich an mich? Ich saß schon mal in deiner Küche!“ Ein heißkaltes Gefühl überfiel mich. Wer war er, und warum erinnerte ich mich nicht? Unübersichtliche Hausparty? Zu viel Alkohol? Allerweltsgesicht? Erst versuchte ich so zu tun, als würde ich mich erinnern, aber nichts von dem, was er sagte, läutete bei mir eine Glocke. „Hatte die Küche eine Blumentapete?“, fragte ich zurück, auf gut Glück. Er nickte. „Dann war ich es nicht. Du warst bei einer meiner Doppelgängerin Martina.“ Erleichterung. Meine Freunde lachten – sie kannten solche Situationen schon. Der Mann wirkte peinlich berührt. Aber mir wurde zum ersten Mal klar, wie toll es ist, ein Allerweltsgesicht zu haben. Ich kann immer sagen: „Ich war's nicht“ – und in vielen Fällen stimmt das sogar. Außerdem empfinde ich es nicht mehr als persönliche Beleidigung, mein Gesicht mit anderen zu teilen. Im Gegenteil – es erinnert mich daran, dass ich mit so vielen Frauen da draußen etwas teile. Nicht nur im Gesicht, sondern auch in der Art, dem Wesen, den Erfahrungen. Ich hatte mich nur aufgrund einer vagen Gesichtsähnlichkeit  in die Lebenswelt von so unterschiedlichen Frauen begeben – und bei allen Begegnungen war nach nur ein paar Minuten das Aussehen nebensächlich und wir tauchten in tiefe Gespräche ein. Mit allen habe ich weiterhin Kontakt. Die Reise ist noch nicht zu Ende, wird es wohl nie sein. Wenn wir genau hinschauen, erkennen wir  in den meisten Menschen etwas Vertrautes – woran man sich in dieser zerrissenen, zersplitterten Gesellschaft ruhig mal erinnern darf. Wir sind sind mit unseren Proportionen, Prägungen und Problemen nicht allein, sondern uns ähnlicher als wir glauben. Wir müssen es nur erkennen. Vielleicht sollten wir alle unsere Doppelgänger und Doppelgängerinnen suchen.