Was steckt da wirklich drin?
Plastikmüll ist zum begehrten Rohstoff geworden. Nun fertigt Adidas daraus sogar das WM-Trikot der deutschen Nationalmannschaft. Alles umweltfreundlich, alles sauber - könnte man denken
In Kooperation mit dem Recherchekollektiv Flip und Die Zeit
Christian Salewski und Sebastian Kempkens
Da liegt es. Der weiße Stoff schimmert im Licht, das in den Konferenzraum fällt, hier in einem futuristischen Gebäude in der Nähe der bayerischen Kleinstadt Herzogenaurach. Der Mann, der es geschaffen hat, beugt sich über den Tisch und fährt mit der Hand über den Adler auf der Brust, über die Farben Schwarz, Rot und Gold an der Seite, über die drei Streifen auf den Schultern. Jürgen Rank heißt er, Jürgen, weil sein Vater Jürgen Grabowski so liebte, den deutschen Weltmeister von 1974.
Wie er da steht und auf sein Werk schaut, merkt man Rank an, wie stolz er ist. »Für mich ist das Trikot ein Heiligtum«, sagt er.
Jürgen Rank ist 52 Jahre alt und Chefdesigner bei Adidas. Lange spricht er über die edlen Farben, die zwischen matt und glänzend variieren, über kleine Details im Muster des Stoffes, über die »Belüftungsstruktur« des Trikots, die die Luft am Rücken stromlinienförmig entweichen lasse. Er sagt: »Wir haben die Wertigkeit noch mal gesteigert, das Engineering im Hauptmaterial ist erste Klasse.«
Seit fast 20 Jahren ist Jürgen Rank jetzt schon an der Gestaltung der deutschen Nationaltrikots beteiligt. Ein Modell wie dieses aber gab es nie zuvor. Das Trikot sei ein »Leuchtstern«, ein »Aushängeschild«, sagt Rank. Das Besondere sei von Anfang an im Entstehungsprozess angelegt gewesen. Im Januar 2020 ging es los, fast zwei Jahre bevor Deutschland sich überhaupt für die Weltmeisterschaft in Katar qualifizierte. Rank arbeitete mit seinem Team streng abgeschirmt auf einer Büroetage hier auf dem Campus von Adidas, hinter Panzertüren, die nur wenige Befugte öffnen können.
Welche Geschichte, überlegten sie damals, soll das neue Trikot der deutschen Fußballnationalmannschaft erzählen?
Sie hatten eine Präsentationsfolie, die Rank auch Oliver Bierhoff zeigte, dem Geschäftsführer der Nationalmannschaft. Darauf hatten sie geschrieben, wofür das Nationaltrikot stehen sollte. Für Nachhaltigkeit. Im Konferenzraum von Adidas sagt Jürgen Rank: »Auch ein Trikot kann helfen, die Welt zu verbessern.«
Jetzt, da die WM begonnen hat, hängt es in Sportgeschäften überall im Land und überall auf der Welt. Man kann es bei Adidas bestellen, im DFB-Fanshop, bei anderen Online-Händlern. Es gibt zwei Varianten. Eine günstige für regulär 90 Euro, Adidas nennt sie die »Fan-Version«. Und eine teure für 140 Euro, die »Performance-Version«, die auch die Spieler auf dem Platz tragen. Sie soll besonders nachhaltig sein. Um sie geht es in diesem Dossier.
Am Trikot der »Performance-Version« findet sich ein QR-Code. Ruft man den Code auf, sieht man Bilder, die den Betrachter in eine weit entfernte Welt geleiten. Meereswellen rauschen gegen einen Felsen, die Kamera rast über einen Strand, über Plastikmüll. Eine Nähmaschine zieht eine Naht. Dann taucht ein Slogan auf: »End Plastic Waste«. Beendet die Plastikverschmutzung.
Kaum einer der großen Sportartikelhersteller brüstet sich so sehr mit seinem Kampf gegen Plastikmüll wie Adidas. Egal ob auf seiner Website oder in seinen Läden, fast überall wirbt Adidas damit, was man alles tue, um die Umwelt zu schützen. Als erster Sportartikelhersteller will das Unternehmen bis zum Jahr 2024 nahezu vollständig auf recyceltes Polyester umsteigen. Das Prinzip, auf das es dabei setzt, klingt so einfach wie genial. Ein großer Teil der Adidas-Produkte besteht aus Polyester. Das lässt sich neu herstellen, dafür braucht man Rohöl. Polyester lässt sich aber auch herstellen, indem man altes Plastik recycelt.
Mit dem Nationaltrikot hebt der Konzern dieses Engagement auf die größtmögliche Bühne. Auch wenn es in Europa gerade viel Kritik gibt an dieser WM – für Adidas ist sie ein »brand moment«, wie sie das intern nennen. Der Moment, auf den es ankommt, um der Marke zum großen Auftritt zu verhelfen. Für das vierte Quartal hoffe man auf einen Umsatzanstieg »im zweistelligen Prozentbereich«, heißt es in einer Pressemitteilung des Unternehmens. »Treiber dieses Wachstums«, unter anderem: das Turnier in Katar.
Ungefähr 50 Millionen Euro zahlt Adidas dem Deutschen Fußball-Bund pro Jahr dafür, die Nationalmannschaft ausstatten zu dürfen. In diesen Wochen zeigt sich, ob sich die Investition für Adidas lohnt. In normalen Jahren werden Schätzungen zufolge etwa 150.000 deutsche Nationaltrikots verkauft. In Jahren, in denen eine Welt- oder eine Europameisterschaft stattfindet, vervielfacht sich der Absatz, laut Adidas liegt er dann im hohen sechsstelligen Bereich. 2014, als Deutschland Weltmeister wurde, wurden sogar rund drei Millionen Trikots verkauft.
Wenn die Weltmeisterschaft ein Laufsteg ist, dieses Bild hatte der Designer Jürgen Rank benutzt, dann ist das Nationaltrikot das wichtigste Outfit. Das Outfit, das allen im Gedächtnis bleibt.
Schaut man sich den Halsausschnitt der »Performance-Version« genauer an, dann sieht man, dass neben dem QR-Code etwas steht: Dieses Trikot sei mit Ozeanplastik hergestellt.
Die bekannteste Polyesterart heißt Polyethylenterephthalat, kurz PET. Warum nicht PET-Flaschen aufsammeln, damit sie nicht die Ozeane vermüllen, und sie recyceln, um daraus Sportmode zu produzieren?
Schon jetzt verkauft Adidas unzählige Produkte aus recyceltem Plastik. Trainingshosen, Laufschuhe, Kapuzenpullover, kaum etwas, das es nicht als recycelte Variante gäbe. Auch die »Fan-Version« des deutschen Nationaltrikots besteht vollständig aus recycelten Materialien. Aber nicht, wie die »Performance-Version«, aus Ozeanplastik – die Sache mit den Meeren erscheint als Krönung der Recycling-Strategie, als ein besonders einprägsames Symbol dafür, wie der zweitgrößte Sportartikelhersteller der Welt versucht, nachhaltig zu werden.
Einige Mitarbeiter von Adidas würden sagen: vortäuscht, nachhaltig zu werden.
Wir, ein Team der ZEIT und des Medien-Start-ups Flip, das zu Nachhaltigkeit und Greenwashing recherchiert, haben versucht herauszufinden, wie aus altem Plastik ein Kleidungsstück wird, das Fans der deutschen Fußballnationalmannschaft kaufen, ein Trikot, in dem Thomas Müller, Leon Goretzka und die anderen in Katar auflaufen. Wir sprachen mit mehreren Adidas-Mitarbeitern. Und wir bekamen interne Dokumente zugespielt, von Informanten, die nicht länger mit ansehen wollten, was sich hinter der Erzählung von der Nachhaltigkeit in Wahrheit verbirgt.
Malediven
Es ist ein Morgen im Oktober 2022 in Malé, der Hauptstadt der Malediven, der Himmel blau, die Luft tropisch warm, als eine Frau auf ein Speedboot bittet. Sie möchte zeigen, wofür sie kämpft. Oder eher: wogegen. Shaahina Ali, 57 Jahre alt, ist Umweltaktivistin. Sie zieht sich eine Rettungsweste an und gibt dem Kapitän das Zeichen zum Ablegen.
Shaahina Ali arbeitet für eine Umweltorganisation namens Parley for the Oceans, was so viel heißt wie »Verhandlung für die Ozeane«. Gegründet wurde sie von dem deutschen Designer Cyrill Gutsch. Ihr Ziel: die Rettung der Weltmeere. Vor sieben Jahren hat Gutsch eine Kooperation mit Adidas geschlossen. Schon bald danach besuchten Adidas-Mitarbeiter die Malediven, so zeigt es ein Video. Sie schnorchelten zu Korallenriffen, fuhren auf Booten durch das türkisgrüne Wasser und halfen mit, am Strand Plastik aufzusammeln.
Das Plastikzeitalter hat auch die Malediven nicht verschont. Davon geben all die Plastikflaschen, Plastiktüten und Plastikkanister Zeugnis, die an die Küsten gespült werden und zwischen Muscheln, Korallenstücken und Kokosnussschalen herumliegen. Cyrill Gutsch hat diesen Staat, der aus knapp 1200 Inseln besteht, zur »Future Island Nation« ausgerufen, zu einer Art Vorzeigeregion. Hier soll man sehen, was möglich ist, wenn man dem Plastik den Kampf ansagt.
Das Speedboot von Shaahina Ali rauscht über die Wellen des Indischen Ozeans, vorbei an Ferienbungalows auf Stelzen, die so unrealistisch schön sind, dass sie aussehen wie Fototapeten. Der Kapitän steuert auf die Insel Keyodhoo zu. Shaahina Ali hat ein Treffen mit der Direktorin der Inselschule organisiert, die schon am Anleger wartet. »Mein Champion!«, sagt Shaahina Ali. Über sauber geharkte Sandwege führt die Direktorin zur blau gestrichenen Schule. Auf dem Hof stehen zwei weiße Säcke, voll mit Flaschen aus Plastik. Die Lehrer, Schüler und Eltern haben sich Shaahina Alis Sache angeschlossen und wollen Wegwerfplastik von der Insel verbannen. »Bis ich in Rente gehe, will ich auf jeder bewohnten Insel der Malediven ein Projekt gegen Plastikmüll gestartet haben«, sagt Shaahina Ali.
Ziemlich viele Projekte von Parley for the Oceans gibt es hier schon. Man kann auf den Malediven Ferienresorts besuchen, die ihren Plastikmüll in weißen Säcken entsorgen und diese dann an Parley übergeben. Man kann Schulkinder treffen, die in ihrer Freizeit Plastikflaschen sammeln, um den Parley-Wettbewerb zu gewinnen. Man lernt dabei, dass »Ozeanplastik« ein eher vager Begriff ist. Wer ihn zuerst hört, denkt an Plastik, das aus dem Meer gefischt worden ist. In Wahrheit sind damit auch PET-Flaschen gemeint, die an Land abgefangen werden, in der Nähe der Küste, bevor sie das Meer erreichen. Der Müll aus dem Wasser ist oft zu dreckig, um nur daraus in großen Mengen Textilien herzustellen.
Ökologisch gesehen ist der Unterschied nicht riesig: Auf vielen Inseln der Malediven gibt es keine richtige Müllentsorgung. Durchaus wahrscheinlich also, dass die Flaschen, die in den Ferienresorts und anderswo auf den Inseln gesammelt werden, am Ende ins Meer gelangt wären.
All dieses Plastik recyceln Adidas und Parley for the Oceans gemeinsam, und daraus entsteht dann Polyester.
Das also ist die Geschichte, die Adidas erzählt, mit den Bildern, die jeder Käufer sieht, wenn er den QR-Code aufruft, und mit zahlreichen aufwendig inszenierten Videos, in denen Menschen an tropischen Stränden Flaschen aufsammeln und Shaahina Ali dafür wirbt, Plastik zu vermeiden. Es ist eine Geschichte, die wie ein Gruß aus einer besseren Welt wirkt. Und wenn es nach Adidas ginge, wäre sie an dieser Stelle wohl zu Ende.
Dabei fängt sie hier erst an.
Es ist ein ganzer Stoß an Dokumenten aus dem Inneren von Adidas, die uns vorliegen – unter anderem E-Mail-Korrespondenzen, Präsentationen und Kostenaufstellungen. Besonders interessant sind jene Dokumente, aus denen hervorgeht, von wo genau das Ozeanplastik stammt.
In einer Pressemitteilung verkündete der Konzern, mit dem Trikot setze man »Adidas’ anhaltendes Engagement fort, einen Beitrag gegen die Plastikverschmutzung zu leisten«. Das Garn, das Adidas für die 140-Euro-Variante verwende, bestehe zur Hälfte aus »Parley Ocean Plastic«, also »recyceltem Plastikmüll, der auf abgelegenen Inseln, an Stränden und in Küstenregionen gesammelt wird, um unsere Meere nicht zu verschmutzen«.
Laut den Dokumenten, die uns vorliegen, stammt jedoch ein Großteil des Ozeanplastiks, das Adidas für seine Textilien verwendet, nicht von Sammelaktionen wie jenen auf den Malediven, die Parley for the Oceans organisiert und überwacht. Der Anteil, den die Umweltorganisation liefert, ist demnach deutlich kleiner als angegeben – er liegt bei etwa 20 Prozent. Die restlichen 80 Prozent stammen aus Ländern, von denen in den Werbevideos rund ums Nationaltrikot nie die Rede ist, aus einer zweiten Lieferkette, die Adidas selbst organisiert. In den Dokumenten werden sie als »Volume Countries« bezeichnet. Als Masse-Länder.
Auf unsere Anfrage hin bestätigt Adidas den Befund aus den Dokumenten. Zunächst einmal ganz allgemein, ohne Bezug auf das Nationaltrikot. Das Ozeanplastik für seine Textilien stamme aktuell neben den Malediven auch noch aus der Dominikanischen Republik, aus Thailand und von den Philippinen. »Die konkrete Zusammensetzung variiert produktionsbedingt.« Im Übrigen sei es unzutreffend, dass man die Öffentlichkeit nicht über die zweite Lieferkette informiere.
Zumindest der Geschäftspartner von Adidas weiß offenbar nicht Bescheid. Cyrill Gutsch, der Chef von Parley for the Oceans, zeigt sich auf Nachfrage überrascht. Thailand und die Philippinen? »Das sind nicht die Informationen, die ich bekommen habe.« Er sei ziemlich geschockt. In keinem der beiden Länder sammle seine Organisation Plastikmüll für die Textilherstellung, sagt uns Gutsch.
Fragt man ihn nach dem Grund dafür, sagt er nur: »Der informelle Sektor ist dort ein großes Problem.«
Philippinen
Dicke graue Regenwolken liegen über der philippinischen Provinz Pampanga, gut 80 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt Manila, als ein schmächtiger Junge seine Pause beendet und sich einen verbeulten Bauarbeiterhelm aufsetzt. Joaquin, so soll der Junge hier heißen, um ihn zu schützen, trägt ein T-Shirt und eine kurze Hose, er ist barfuß. Vorbei an Bergen von Schutt läuft er einen sandigen Abhang hinunter. Unten erstreckt sich das größtenteils ausgetrocknete Bett eines Flusses, umwuchert von Gräsern und Büschen. Am Ufer, unter einem Baum, hocken Joaquins Freunde Caleb und Jaiden, auch sie tragen in diesem Artikel andere Namen, auch sie sind barfuß.
»Schau, wie viel wir haben«, sagt Joaquin und zeigt auf vier weiße Säcke.
Es ist gleich Mittag, die Jungs haben schon den Großteil ihres Arbeitstages hinter sich. Seit den frühen Morgenstunden sind sie herumgezogen, denn wer zu spät kommt, verpasst die größten Schätze, sagen sie. Wie immer ging Joaquin im Flussbett in die eine und Caleb in die andere Richtung, und wie immer schlug Jaiden sich in die Büsche. Gemeinsam klaubten die Freunde zusammen, was der Fluss angespült hat. Alte Farbkanister, leere Konservendosen, einen verdreckten Auspuff, abgerissene Kabel, eine Milchkanne. Und Plastikflaschen.
Seit Adidas vor einigen Jahren begonnen hat, PET aus der Provinz Pampanga zu beziehen, sind die Flaschen hier begehrter denn je. Joaquin weiß nicht, woran das liegt, er weiß nicht, was mit den Flaschen passiert, die er sammelt, und er hat erst recht keine Ahnung, was in ihnen steckt, das so wertvoll ist. »Flaschen bringen Geld, deshalb sammeln wir sie.«
Wie dringend alle drei, Joaquin, Caleb und Jaiden, dieses Geld brauchen, wird später klar werden, wenn die Jungs die Hütten zeigen, in denen sie mit ihren Familien wohnen, wo sie schlafen, zu fünft, sechst, siebt, auf verdreckten Matratzen in fensterlosen Räumen von kaum 15 Quadratmetern.
Caleb, neun Jahre alt, wird seine Großmutter vorstellen, die, seit sie von einem Auto angefahren wurde, nicht mehr arbeiten kann. Und die deshalb nun darauf angewiesen ist, dass er Geld verdient.
Jaiden wird zu seinem Vater führen, der selbst Müllsammler ist wie sein zehnjähriger Sohn.
Und Joaquin, zwölf Jahre alt und so etwas wie der Anführer der drei, wird erzählen, dass er nicht weiß, was seine Mutter arbeitet, nur, dass sie dafür nach Katar gegangen ist, dorthin, wo jetzt die Weltmeisterschaft läuft. Seinen Vater kenne er nicht, zur Schule gehe er nicht mehr, er wohne bei seinem Onkel und mache »kalakal«, was auf Filipino so viel heißt wie Handel.
Joaquin, Caleb, Jaiden. In der Sprache von Adidas: »T8 – Individuals«.
In den Dokumenten von Adidas ist die Lieferkette, die der Konzern in seinen »Volume Countries«, Thailand und den Philippinen, organisiert hat, anhand von Kürzeln beschrieben, T8 bis T1. Der erste Schritt sind Joaquin, Caleb, Jaiden und andere. Die Menschen, die auf eigene Faust den Müll sammeln. Ohne dass dabei von ihnen Werbefilme gedreht werden.
Am Ufer des Flusses gibt Joaquin seinen Freunden jetzt das Signal, den Müll an seinen Bestimmungsort zu transportieren. Gemeinsam wuchten die Jungs die Säcke auf ein Stück Wellblech und schleppen sie den Abhang hoch. Sie laden sie auf einem sandigen Parkplatz ab, direkt gegenüber der Grundschule, auf die Caleb und Jaiden gehen. Ein dickbäuchiger Mann in Flipflops lagert hier haufenweise Müll.
Das ist der zweite Schritt der Lieferkette: »T7 – Junkshops«. Händler, die den Müll kaufen, sortieren, weiterverkaufen.
Sack für Sack stellt Joaquin auf eine Waage. Viermal schlägt der Zeiger aus, viermal notiert der Müllhändler eine Zahl. Kurz darauf steht Joaquin mit einem Zettel in der Hand vor einer Frau, die auf einer Holzpritsche zwischen Müllsäcken sitzt und Zahlen in einen Taschenrechner tippt, bis sie endlich in einen Plastikeimer voller Geld greift. Zwei lilafarbene Scheine und einige Münzen drückt sie Joaquin in die Hand: 254 Peso, umgerechnet gut vier Euro.
So oder so ähnlich passiert es ständig auf den Philippinen, wo die Zahl der Müllsammler nur geschätzt werden kann, sie geht sicher in die Zehntausende. Einige wenige sind sogenannte formelle Müllsammler, die unter guten Bedingungen arbeiten können, bezuschusst von Behörden. Der Großteil aber verrichtet seine Arbeit unter erbärmlichen Umständen. Es ist dieses Phänomen, das Cyrill Gutsch meinte, ein Phänomen, das es in vielen ärmeren Ländern gibt: der informelle Sektor. Bei Parley for the Oceans, sagt Gutsch, achten sie genau darauf, dass der Müll unter besseren Bedingungen gesammelt wird. Und bei Adidas?
Auf den Philippinen sprechen wir mit einem Dutzend Menschen, die hauptberuflich Flaschen sammeln für Junkshops, von denen die Flaschen wiederum an Zulieferer von Adidas verkauft werden. Keiner von ihnen sagt, er komme auf die 12.000 philippinischen Peso im Monat, umgerechnet etwa 200 Euro, die für eine fünfköpfige Familie als Armutsschwelle gelten.
Von jenem Junkshop, an den Joaquin und seine Freunde liefern, gehen die Flaschen an einen größeren Müllhändler. Ein freundlicher Mann mit Lesebrille, er nimmt sich kurz Zeit, als wir bei ihm vor der Tür stehen. Ja, er liefere seine Flaschen an ein Recycling-Center, das sie dann an Adidas verkaufe, bestätigt er. In seinem Laden hat er ein Transparent aufgehängt, gelbe Großbuchstaben auf schwarzem Grund: »NO CHILD LABOR«. Keine Kinderarbeit.
Spricht man ihn darauf an, sagt er, er müsse vorsichtig sein, schließlich stehe er als Präsident der örtlichen Vereinigung der Müll-Recycler unter besonderer Beobachtung, zumal er ja indirekt mit Adidas zusammenarbeite. Er sei ein guter Arbeitgeber, darauf lege er Wert, er zahle seinen Mitarbeitern den Mindestlohn von 450 Peso pro Tag, dazu komme ein freies Mittagessen. »Aber ich werde Sie nicht anlügen«, sagt der Händler. »Natürlich gibt es hier in unserer Gegend Kinderarbeit.«
In seinen Richtlinien schreibt Adidas, dass bei Kinderarbeit »Null Toleranz« gelte. Zumal Unternehmen nach dem neuen Lieferkettengesetz, das ab Januar 2023 in Deutschland gilt, Verantwortung für ihre gesamte Lieferkette tragen – auch wenn es um sogenannte mittelbare Zulieferer geht, also keine direkten Handelspartner. Ein Verstoß gegen das Gesetz liegt vor, falls ein Unternehmen wissen oder ahnen konnte, dass es irgendwo in der Kette zu Kinderarbeit gekommen ist – und nichts dagegen unternommen hat.
Uns liegen E-Mails vor, in denen sich schon vor mehr als zwei Jahren eine Adidas-Managerin wegen Menschenrechtsverstößen bei den Zulieferern von Ozeanplastik Gedanken macht. An eine für Asien zuständige Mitarbeiterin schreibt sie, es habe doch von Beginn an Bedenken gegeben. »Was haben wir getan, um dem zu begegnen?«, fragt sie. Und dann: »Stell dir nur vor, was passiert wäre, wenn ein Journalist Kinderarbeit oder so bei der Herstellung des Parley-Schuhs gefunden hätte.« Sie bezieht sich auf einen Sneaker, den Adidas – so wie jetzt das Nationaltrikot – schon damals als Produkt verkaufte, das zum Teil Parley Ocean Plastic enthält.
Wusste Adidas Bescheid? Der Konzern weist das weit von sich. Man dulde keine Kinderarbeit und verpflichte seine Partner, die Geburtsurkunden der Beschäftigten in Kopie aufzubewahren. »Wir überprüfen die Einhaltung unserer Vorgaben vierteljährlich und konnten keine Anzeichen für die Beschäftigung Minderjähriger feststellen.«
Die Textilindustrie hat in der Vergangenheit beim Thema Kinderarbeit immer wieder für Skandale gesorgt, meist ging es dabei um Nähereien in Ländern wie Bangladesch. Die Industrie hat das Problem besser in den Griff bekommen, durch Kontrollen, durch staatliche Aufsicht. Nun scheint es, als entwickle sich eine neue, weitgehend unkontrollierte Boombranche, in der Kinderarbeit stattfindet: das Geschäft mit dem Plastikmüll.
Verfolgt man die Spur der Flaschen auf den Philippinen weiter, landet man bei einem Recycling-Center namens Jakin Boaz, wenige Kilometer entfernt von dem freundlichen Müllhändler mit der Lesebrille. Es ist in den Adidas-Dokumenten als T6 gelistet. Hier werden die Flaschen zu Ballen gepresst. Die Ballen werden weitertransportiert zur Station T5, der Firma Toplun Recycling. Sie liegt in Valenzuela, einer Stadt im Dunstkreis von Manila, die viele nur Plastic City nennen, so eng reihen sich hier die Plastikfabriken aneinander. Bei Toplun Recycling werden die Ballen zu Stückchen zerkleinert, sogenannten Flakes. Hinter hohen Mauern lagern unzählige weiße Säcke, alle mit der Aufschrift »Polyethylene terephthalate« – PET.
Durch ein vergittertes Fenster versucht uns ein junger Mitarbeiter abzuwimmeln, er trägt ein T-Shirt mit dem Adidas-Logo auf der Brust, auf dem Rücken steht »End Plastic Waste«. Man könne seinen Chef anrufen, sagt er. Der jedoch lehnt ein Interview ab. Auch das Jakin Boaz Recycling Center steht nicht für ein Gespräch zur Verfügung.
Auf unsere Nachfrage antwortet Adidas: »Die letzten Überprüfungen der genannten Zulieferer« – Toplun Recycling und Jakin Boaz – »fanden Anfang November 2022 statt«, ohne Auffälligkeiten.
Was heißt all das nun für das deutsche Nationaltrikot?
Am vergangenen Montag, nachdem wir den Konzern mit den Ergebnissen unserer Recherchen konfrontiert haben, teilt Adidas uns etwas Überraschendes mit. Das Trikot werde nicht mit Plastikabfall von den Philippinen hergestellt. Der Abfall, heißt es da, »stammt ausschließlich von Stränden und aus Küstenregionen in Thailand«.
Wenn das stimmt, dann hat Adidas nicht nur ein Problem mit Kinderarbeit. Dann ist da noch ein ganz anderer Skandal.
Wir haben Cyrill Gutsch am Telefon erzählt, was Adidas uns über die Herkunft des Trikots mitgeteilt hat. Der Chef von Parley for the Oceans reagierte so: »Das ist für mich jetzt komplett neu.« Dann: »Das ist abenteuerlich.« Parley habe in Thailand erste Tests gemacht, sei dort aber nicht operativ tätig.
Der Anteil von Ozeanplastik, das von Parley kommt – zum Beispiel aus seiner Vorzeigeregion, den Malediven –, läge demnach nicht bei nur 20 Prozent, wie unsere Recherchen nahegelegt hatten. Sondern sogar bei null Prozent.
Und trotzdem schreibt Adidas in den Halsausschnitt des Trikots: »Made with Parley Ocean Plastic«.
Cyrill Gutsch: »Für uns ist es sauwichtig, dass wir genau wissen, wie das Garn zusammengesetzt ist. Weil unser Name da draufsteht, ganz einfach. Und wir haben nichts anderes außer unserem Namen. Das ist alles, was wir haben.« Letztendlich wisse man bei großen Unternehmen halt nie.
»Wenn sich die Vorwürfe bewahrheiten, muss ich auf dem Rücktritt der verantwortlichen Führungskräfte bei Adidas bestehen, um die Partnerschaft weiterzuführen«, sagt Gutsch. »Ansonsten muss ich den Vertrag infrage stellen.«
Taiwan
An der Westküste Taiwans, nahe der Hauptstadt Taipeh, liegt eine Region namens Taoyuan, was übersetzt Pfirsichgarten heißt. Tatsächlich könnte diese Gegend von einem Garten kaum weiter entfernt sein. Endlos erstrecken sich direkt am Chinesischen Meer Werkshallen, Schrottplätze und Chemiewerke. Hierher werden die weißen Säcke, die wir bei Toplun auf den Philippinen gesehen haben, verschifft. Hier, in einem der größten Industriegebiete des Landes, nimmt der Rohstoff für das Nationaltrikot, der nach Aussage von Adidas aus Thailand angeliefert wurde, eine neue Gestalt an. Er wird noch kleiner geschreddert, dann wird er eingeschmolzen und zu einem Garn gezogen, aus dem später der weiße Stoff des Nationaltrikots gewoben werden kann. »T4 – Chips«. »T3 – Yarn«.
Der Konzern, mit dem Adidas in Taiwan zusammenarbeitet, ist ein gewaltiges Konglomerat, er heißt Far Eastern New Century, abgekürzt FENC, und ist der zweitgrößte Hersteller von recyceltem PET weltweit. Allein im vergangenen Jahr hat FENC mehr als 20 Milliarden PET-Flaschen verarbeitet. Neben den Werken in Taiwan besitzt das Unternehmen Standorte in China, Japan und den USA, bald sollen zusätzliche Recyclingwerke in Vietnam und Malaysia aufgebaut werden, auch auf den Philippinen.
Einen Einblick in den Konzern zu bekommen ist so gut wie unmöglich, unsere Anfragen werden abgelehnt. Was FENC betrifft, hält sich auch Adidas nach außen hin bedeckt. Weder in der »Globalen Herstellerliste« für 2022 noch in der Herstellerliste »FIFA Fußballweltmeisterschaft Katar«, zwei Übersichten, in denen Adidas seine Zulieferer aufzählt, taucht der Name auf. Und das, obwohl bei FENC mit dem Garn der textile Grundstoff für das Nationaltrikot entsteht.
Herbst 2022, das Messegelände von Taipeh. Einmal im Jahr trifft sich hier die Textilwirtschaft des Landes. Männer in Anzügen und Frauen in Kostümen eilen umher, Webstühle klappern, Garnspulen surren. An fast allen Ständen erzählen einem die Verkäufer die Story von der Nachhaltigkeit. Ihre Yoga-Leggins, Fleece-Pullover, Badeanzüge, Aufnäher, Schnürsenkel, Bündchen, Reißverschlüsse – all das gebe es auch in nachhaltigen Varianten. Kaum ein Zulieferer hier, der nicht teilhaben möchte am Boom: Der Marktpreis für Polyestergarn aus Rohöl liegt laut Branchenexperten derzeit bei etwa 1,55 Dollar pro Kilo. Recyceltes Garn kostet etwa 90 Cent mehr, Garn aus recyceltem Ozeanplastik noch einmal 40 Cent mehr.
An einem Stand gleich beim Eingang zur Messe läuft auf einem kinoleinwandgroßen Flachbildschirm ein Video: Müllsammler waten knietief durch Ozeanplastik, Vögel fressen Plastiktüten, Fische verenden an Plastikpartikeln. Zu dramatischer Musik steht da in großen Lettern auf Englisch: »Wir tun alles, um die Situation zu verbessern.« Es ist der Stand der Far Eastern New Century Corporation. Vor einem Fußballtor hat FENC das derzeit wohl bekannteste Produkt ausgestellt, in dem sein Garn steckt, mit den drei Streifen auf der Schulter und dem Adler auf der Brust. Das deutsche Nationaltrikot.
Irgendwann taucht eine Menschengruppe vor der Schaufensterpuppe mit dem Trikot auf, in ihrer Mitte ein Mann in schwarzem Anzug. Er heißt Eric Huang und ist bei FENC für Polyesterfasern zuständig. Huang hat mit Adidas und Parley for the Oceans das Recyclinggarn entwickelt, aus dem das Nationaltrikot besteht. Hier auf der Messe wimmelt er uns nach wenigen Minuten ab. Später wird er am Telefon sagen, dass er über Adidas nicht reden dürfe: »Secret.« Geheim.
Bei Facebook, auf der Seite einer taiwanesischen Behörde, gibt es ein Video von Huang, in dem er doch etwas offenbart. Es stammt von einer Konferenz über Meeresschutz. In dem Video spricht Huang über das deutsche Nationaltrikot. Er erklärt seinen Zuhörern, warum das Trikot oberhalb der Nationalflagge vier Sterne aufgestickt hat. »Sie stehen dafür, wie oft eine Mannschaft gewonnen hat«, sagt er. »Wenn Deutschland gewinnt, wer will dann noch das Trikot mit vier Sternen? Dann wollen alle fünf Sterne!« Die Produktion müsse in diesem Fall schnell hochgefahren werden.
Das größte Problem mit der Modeindustrie lässt sich auf eine einfache Formel herunterbrechen: Es gibt von allem zu viel. Und obwohl es schon zu viel ist, wird es immer schneller immer mehr. Kritiker nennen dieses Problem Fast Fashion. Während Umweltschützer in manchen Bereichen Fortschritte sehen – zum Beispiel tun viele Hersteller inzwischen mehr gegen den Einsatz toxischer Chemikalien als früher –, wird die Massenproduktion einfach immer weiter aufgedreht. In den vergangenen 25 Jahren hat sich die Menge an Textilfasern, die weltweit jedes Jahr hergestellt werden, mehr als verdoppelt.
Adidas ist bei der Weltmeisterschaft offizieller Ausrüster von sieben Nationalverbänden. Um den brand moment auszureizen, verfällt der ganze Konzern ins WM-Fieber.
Die Fußballabteilung produziert Promo-Shirts und Aufwärmtrikots. Andere Abteilungen, die mit Fußball eigentlich nichts zu tun haben, bringen ebenfalls WM-Produkte auf den Markt. »Cross-Category-Support« heißt das in einer internen Präsentation. »Running« etwa stellt extra einen Laufschuh her, »Sportswear/Training« steuert Klamotten »Designed 4 Gameday« bei. Die Abteilung »Originals/Statement« hat eine »Fanzone Adilette« entwickelt. Insgesamt kommen so laut Adidas allein rund um das deutsche Team knapp 200 verschiedene Artikel zusammen.
Diese Produkte bestehen meist nicht aus Ozeanplastik.
Einer unserer Informanten berichtet zudem, wie groß die Überproduktion im Verborgenen ist, abseits der Angebote in den Läden. Die Herstellung eines neuen Produkts basiere auf sogenannten Marketing-Forecasts, also Schätzungen, wie viel davon verkauft werden wird. Dieser Blick in die Glaskugel sei oft fehlerbehaftet, was zu immensen Überschüssen führe, bei den Produkten selbst, aber eben nicht nur dort. Hunderttausende Meter Stoff würden aufgrund von Kalkulationsfehlern nicht verwendet, bei Adidas-Zulieferern in Asien gelagert – und schließlich zerstört.
Das sportliche Abschneiden der Nationalmannschaft habe große Auswirkungen auf den Verbleib von vielen Tonnen Material, sagt der Informant. »Sollte Deutschland früher ausscheiden, muss alles weg, was nicht mehr verwendet werden kann. Es ist bei Adidas ein offenes Geheimnis, dass diese überschüssigen Produkte und Stoffe am Ende vernichtet werden.«
Auf der Messe in Taipeh bekommen wir immer wieder zu hören, wie verschwenderisch Adidas mit Materialien umgehe. Ein Verkäufer sagt, von allen Kunden gebe Adidas die meisten Bestellungen auf, mit lauter verschiedenen Farben und Mustern – und verwende davon am Ende nur ausgewählte Ware. Die Hersteller blieben oft auf dem Rest sitzen. »Adidas übernimmt von allen Marken am wenigsten Verantwortung«, sagt der Verkäufer.
Deutschland
Zwei Schritte in der Lieferkette fehlen jetzt noch. »T2 – Textile«: Laut den Dokumenten reist das Garn aus Taiwan weiter, zu einer vietnamesischen Firma, die auch Werke in China betreibt. Dort wird es zu einem Textil verarbeitet, dort entsteht, was dann an Händler in aller Welt verschifft wird. »T1 – Product«. Das deutsche Nationaltrikot.
Man könnte denken: Am Ende hat das Trikot keine Auswirkungen mehr auf die Umwelt. Dann wird es einfach nur noch getragen, von Thomas Müller und Leon Goretzka und all den Fans. Und wenn es nicht getragen wird, liegt es in Kleiderschränken, Sporttaschen und Turnbeuteln. Anders als eine billige Plastikflasche, schnell ausgetrunken und unachtsam weggeworfen, kann das fertig produzierte und verkaufte Nationaltrikot erst einmal keinen Schaden anrichten.
In einem etwas heruntergekommenen Büroturm in Hamburg arbeitet eine Frau, die es besser weiß. Elke Fischer heißt sie, ihr Reich liegt im achten Stock, das Labor des Fachbereichs Erdsystemwissenschaften der Universität Hamburg. Elke Fischer leitet eine der führenden deutschen Forschungsgruppen zu mikroskopisch kleinen Kunststoffteilchen. Experten halten Mikroplastik für ein globales Müllproblem. Einer Studie zufolge werden in Deutschland jährlich etwa 446.000 Tonnen Kunststoff in die Umwelt freigesetzt. Ein Großteil davon, etwa 330.000 Tonnen, ist Mikroplastik.
Elke Fischer hat die Partikel schon überall gefunden, zum Beispiel in Proben aus menschlichen Lebern und auf Blättern von Bäumen, wo der Wind sie hingetragen hat. Besonders viel Mikroplastik geben synthetische Textilien ab, in Form von Fasern. Mitten in Fischers Labor steht deshalb eine gewöhnliche Waschmaschine. Elke Fischer hat sich bereit erklärt, für uns zu untersuchen, was geschieht, wenn man das Nationaltrikot in die Wäsche steckt.
Die Forscher machen eine Feinwäsche bei 30 Grad, wie auf dem Etikett angegeben. Das Abwasser leiten sie durch ein Analysesieb, Lochgröße 20 Mikrometer. Was das Sieb auffängt, kommt zum Trocknen in eine sogenannte Abdampfschale, die aussieht wie eine gläserne Müslischüssel.
Damit das Experiment aussagekräftig wird, wäscht das Forscherteam drei Trikots, jedes fünf Mal hintereinander. Nach 15 Waschgängen stehen 15 Schalen auf dem Labortisch der Forschungsgruppe.
Sie sei, wird Elke Fischer später sagen, skeptisch gewesen, ob überhaupt eine sichtbare Menge nachweisbar sein würde. Jetzt nimmt sie die Schale mit der Aufschrift 3.1 in die Hand, das Ergebnis des ersten Waschgangs des dritten Trikots. Und man merkt, dass diese Wissenschaftlerin, die sich so gut mit Mikroplastik auskennt wie kaum jemand sonst, ehrlich überrascht ist. Der Boden der Schale ist fast vollständig mit gräulichem Staub bedeckt. Lauter Fasern. »Wow, das ist wirklich beeindruckend schlecht«, sagt Elke Fischer.
Im Schnitt verliert ein neues Nationaltrikot bei den ersten fünf Wäschen hier im Labor 0,35 Gramm an Fasern. Das sind, so werden es weitere Untersuchungen zeigen, ungefähr 68.000 Fasern. Bei einer ganzen Waschmaschinentrommel voller Trikots wäre die Schale, die auf dem Labortisch steht, komplett gefüllt, schätzt Elke Fischer. »Schockierend.«
Sie klemmt einen Papierfilter mit einem Teil des Faserstaubs unter ein Mikroskop. Auf einem Monitor erscheint eine Struktur, wie sie Elke Fischer noch nie gesehen hat. Normalerweise seien die Fasern in ihren Proben relativ lang und unterschiedlich, sagt sie. Diese hier hingegen seien merkwürdig gleichförmig. Etwa einen Millimeter kurz, mit scharf abgebrochenen Enden, wie abgeschnitten – gebrochen durch Kontakt, etwa mit der Waschtrommel.
Woran das liegt? »Vermutlich am Recycling«, sagt Elke Fischer. Studien hätten gezeigt, dass der Recyclingprozess die Fasern schwäche. Die Folge: mehr Abrieb.
Zuletzt platziert eine Mitarbeiterin eine Probe in einen klobigen Kasten, um eine sogenannte Raman-Spektroskopie durchzuführen. Mit der Computermaus steuert sie den Laser des Geräts über eine einzelne Faser und drückt auf Aufnahme. Keine Sekunde später erscheint auf dem Bildschirm eine gezackte Grafik, die an die Ausschläge eines Seismografen erinnert. Es ist eine Art chemisches Grundprofil, die DNA des deutschen Nationaltrikots. Die Wissenschaftlerin gleicht das dargestellte Spektrum mit einer Datenbank ab, dann hat sie das Ergebnis, mit einer Übereinstimmung von 93,53 Prozent: Polyethylenterephthalat.
»Was man hier sieht«, sagt Elke Fischer und deutet auf den Monitor, »ist eindeutig das Material einer PET-Flasche.« Deren Bausteine aus Asien um die halbe Welt gereist sind, um hier zu landen, als Trikot der deutschen Nationalmannschaft. Und stünde die Waschmaschine nicht in einem Labor, sondern in einer ganz normalen Umkleidekabine oder einem ganz normalen Haushalt irgendwo in Deutschland – dann wäre die Reise jetzt noch immer nicht zu Ende.
»Diese Fasern landen mit dem Abwasser aus unseren Waschmaschinen in den Kläranlagen, die nicht in der Lage sind, das alles herauszufiltern«, sagt Elke Fischer.
Und dann?
»Geht es über die Flüsse direkt in unsere Meere.«
Studien zufolge stammen bis zu 35 Prozent des Mikroplastiks in den Weltmeeren aus synthetischer Kleidung. Eine Plastikflasche kann man sehen. Man kann sie aus dem Wasser fischen, man kann sie einsammeln, wo immer sie auch herumliegt. Mikroplastik ist dafür zu klein, viel zu klein. Es verteilt sich in den Ozeanen, reist mit der Strömung umher, erobert den Lebensraum vor der deutschen Küste, vor der Küste Thailands, der Philippinen, der Malediven. Und da bleibt es dann.