Jetzt aber weg hier
Unabhängige Kreative haben es überall schwer. Aber zwischen wirtschaftlicher Enttäuschung und politischer Resignation ist die Avantgarde Belgrads besonders betroffen. Dabei galt die Stadt mal als das Berlin des Balkans.
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung / Leben
Als ein Mann mit schwarzem Maßanzug und Solarium-Teint den kleinen Laden von Aleksandra Lalic verlässt, ist sie auf 180. „Was bildet sich der Typ denn ein?“, faucht die Modedesignerin. „Ich soll mich besser präsentieren? Das will ich eben genau nicht!“ Der Chef der Belgrader Fashion Week war mit einer Entourage aus aus schmuckklimperndem Designernachwuchs, einem britischen Talentscout und Moedls in ihren winzigen Laden eingefallen. Dort hängen nur zwei Kleiderstangen. Eine Singer-Nähmaschine ist ihr Verkaufstresen. Lalic stapelt Röcke und Oberteile aus kratzigem Filz, der aus Menschenhaaren gewalkt wurde. Die Röcke wirken wie steife Glocken. Angezogen stülpt sich der Kragen der Oberteile über den Kopf. Man kann die Sachen aus der Hair-Dress-Kollektion vermutlich nicht tragen. Sie kratzen und sind viel zu warm. Aber sie sind ein Statement. Sie sind mehr Kunst als Kleidung. „Hier soll immer alles glamourös und schick sein, aber ich will mit meiner Mode das scheinbar Normale hinterfragen“, sagt Lalic. „Das geht in diesem Land offenbar nicht.“ ...
Vor einigen Jahren, als Lalic, 34 Jahre alt, gerade frisch aus einem Dorf in Südserbien in die Hauptstadt gekommen war, da fühlte sie sich wie im Paradies. "Ich war glücklich, weil es so viele Kreative hier gab." Mittlerweile hat sich ihr Glück in Ernüchterung verwandelt: "Es geht hier nicht mehr darum, sich ernsthaft mit der Gesellschaft auseinanderzusetzen, Fragen zu stellen oder ein Problem zu bearbeiten."
Die Modedesignerin Lalic ist ein Beispiel für die enttäuschten Kreativen von Belgrad, die so viele Träume haben, aber sie immer weniger leben können. Was ihnen fehlt, ist natürlich zuallererst das Geld - wie in so vielen europäischen Transformationsländern. Aber worunter sie wirklich leiden, lässt sich nicht mit Geldscheinen bezahlen: Es ist Respekt vor dem, was sie in diese Gesellschaft einbringen.
Die zierliche rothaarige Frau mit den grünen, schwermütigen Augen setzt sich in eine Sofaecke des "Belgrade Design Districts", einem klobigen sozialistischen Architekturkoloss mitten im Zentrum der Hauptstadt. Das ehemalige Kaufhaus stand zehn Jahre lang leer, bis es die junge Kreativszene besetzte. In einem der Eingänge hat noch immer ein Obdachloser seine Pappkistenburg aufgebaut und schläft. Hinter der Tür wird es bunt. Auf zwei Etagen breitet sich das Spektrum der unabhängigen Modemacher aus: handgeschneiderte Kleider, Schuhe und Taschen, Keramik, Schmuck, Malerei. Wenn niemand in die Läden zum Kaufen kommt, treffen sich die Frauen und die wenigen Männer in der Couchecke. Es wird geraucht, Kaffee getrunken - und lamentiert.
Haben es unabhängige Kreative nicht überall schwer zu überleben? "Ja", sagt Lalic, "aber als ich in Berlin war, habe ich gemerkt, wie ernsthaft sich die Menschen mit Kunst und Design auseinandersetzen. Hier muss alles immer protzig sein und nach Geld aussehen, sonst wird es ignoriert." Viele ihrer Freunde sind deswegen schon weg.
Seit der Jahrtausendwende haben etwa 30 000 junge Serben das Land verlassen, weil sie in ihrer Heimat keine Möglichkeit sehen, sich professionell weiterzuentwickeln, zu arbeiten oder nur zu überleben. Während der Balkankriege in den neunziger Jahren flüchteten sich nach Expertenschätzungen 400 000 Intellektuelle ins Ausland, nicht alle sind zurückgekehrt.
"Wir beobachten das Gleiche gerade wieder", sagt die Kunstgeschichtsprofessorin Marjana Cvetkovic Markovic. "Es ist ein braindrain von unvorstellbarem Ausmaß." Sie hat nach der Geburt ihrer Tochter den akademischen Vollzeitjob aufgegeben und koordiniert jetzt als Freiberuflerin "Station", das erste Zentrum für zeitgenössischen Tanz. Sie befürchtet, dass die ohnehin übersichtliche Szene bald fast völlig ausgeblutet sein wird.
Eine Umfrage unter den unabhängigen Performance-Künstlern Serbiens hat gezeigt, dass achtzig Prozent von ihnen vorhaben, in näherer Zukunft das Land zu verlassen. "Berlin ist dabei ein besonders wichtiger Anziehungspunkt, weil die Kunsthochschulen dort Ostthemen gegenüber sehr aufgeschlossen sind und man leicht internationalen Anschluss findet", sagt Markovic. Sie macht den flüchtenden Künstlern dabei keine Vorwürfe - im Gegenteil. Sie findet den Wunsch nachvollziehbar.
Die auffällig schöne Frau mit krausen Haaren, schwarzem Ballerina-Tutu und neonfarbenen Steppschuhen hat im vergangenen Jahr das Kondenz-Festival für Performance-Kunst organisiert. Bei einer der Installationen saßen junge Menschen mit Rahmenbrillen und dicken Schals auf einer selbstgezimmerten Sitzbank und blätterten ein illustriertes Buch durch. Die andere Hälfte des Publikums guckte ihnen dabei zu. Es gab weder Handlung noch Schauspieler. Irgendwann wurde gewechselt, und die Blätterer wurden Betrachter. Diese Bewegungslosigkeit, Kargheit und Stille wirkte vor dem Hintergrund der Abwanderung wie ein Schrei: Irgendwann seid ihr allein.
Das Programm des Festivals hat das noch einmal unterstrichen. Auf pinkfarbenen und blauen Schals stand der Satz: "Gewidmet den Choreographen, Tänzern und Kulturschaffenden Serbiens und des Balkans, die dorthin aufbrechen, wo sie mehr wertgeschätzt werden." Aber auch die Migration ist mittlerweile schwierig.
Im Dezember 2009 hatten die Schengen-Staaten der EU ihre Visa-Anforderungen für die meisten Balkanländer gelockert. Ein Strom von Serben überrollte daraufhin die Grenzen gen Westen. Laut einer Studie des UN-Flüchtlingsrates suchten 2010 aus keinem Land der Welt mehr Menschen Asyl in Industrieländern als aus Serbien, selbst aus Afghanistan und dem Irak nicht. Neben den Beneluxstaaten, Frankreich und Österreich ist auch Deutschland ein beliebtes Zielland. Im vergangenen Herbst erreichte der serbische Zustrom - vor allem von Angehörigen der Roma - seinen Höhepunkt: Die "Bild"-Zeitung zählte vom 1. bis zum 10. Oktober allein 1841 Serben, die sich in Deutschland um eine Aufenthaltsgenehmigung bewarben, und befragte Innenminister Hans-Peter Friedrich provokant: "Was tun Sie gegen Asyl-Missbrauch?" In dem Interview drohte der Minister damit, die Visa-Freiheit wieder rückgängig zu machen. Seitdem sind die Zahlen leicht rückläufig, wie der Botschafter der Europäischen Union in Serbien, Vincent Degert, auf einer Konferenz erklärte, "aber das ist für diese Jahreszeit typisch". Er hoffe, dass sich der Trend auch in den nächsten Monaten fortsetzt.
"Es ist einfach zu sagen: Ich gehe weg und probiere in einem reicheren Land mein Glück", sagt Ljudmila Stratimirovic. "Aber ich bin hier, und ich will es auch bleiben." Straimirovic, 44 Jahre alt, ist so etwas wie der Nabel der kreativen, urbanen, hippen Szene in Belgrad. Vor vier Jahren hat sie mit Freunden eine alte Textilfabrik in Eigenregie saniert und zum Veranstaltungsort umgebaut. Das "KC Grad" ist eine schlichte Halle unter den wuchtigen Pfeilern der Brankobrücke, umgeben von schrabbeligen Industriebauten, einer Autowerkstatt und einem Pizzaservice.
"Als wir 2009 hier eine riesige Eröffnungsparty gefeiert haben, war das ein Zeichen an die ganze junge Szene", sagt Stratimirovic. "Hier geht noch was, bitte geht nicht." Seitdem holt sie internationale Bands und DJs, Ausstellungen und Festivals in die Räume. Junge Designer können auf einer kleinen Messe ihre Produkte vorstellen, ökologisch Interessierte organisieren Upcycling-Workshops, Schwule feiern hier exzessive Partys, was sie im orthodoxen, homophoben Serbien nicht überall ausleben können. "Wir müssen uns gegenseitig unterstützen", sagt Stratimirovic. "Wir sind doch nur so wenige."
Aber so einfach ein solcher Satz klingt - es ist schwierig, ihn auch zu leben. Wenn man sich mit den Kreativen und Studenten, den Künstlern und Intellektuellen der Stadt unterhält, begegnet einem vor allem eines: Depression. Mal ist es die schleppende Wirtschaft, die im vergangenen Jahr um zwei Prozent geschrumpft ist, mal die Arbeitslosigkeit, die unter der Jugend bei fast fünfzig Prozent liegt. Und natürlich die nationalistische Regierung, die im vergangenen Jahr die Wahlen gewonnen hat und einen ehemaligen Sprecher des Ex-Staatschefs Slobodan Milosevic zum Premierminister machte. In diesem Klima aus wirtschaftlicher Enttäuschung und politischer Resignation fällt es auch der kreativen Avantgarde schwer, positiv zu denken. Es fühlt sich nicht mehr nach "arm, aber sexy" an, sondern nur noch arm.
"Ich möchte nicht deprimiert hier rumsitzen und mich selbst bemitleiden", sagt die Clubgründerin und Kreativdirektorin Stratimirovic. Die serbische Larmoyanz gehe ihr auf die Nerven. Um die Szene zu vernetzen, veranstaltet sie zum Beispiel mehrmals im Jahr eine kleine Designmesse. Dann hängen in dem ehemaligen Fabrikgelände unbekannte Modemacher ihre Kreationen an die Kleiderständer, ein Hutmacher zeigt verrückte Kopfbedeckungen aus Filz, Kunsthandwerker haben Broschen und Ohrringe aus Keramik und Plastik vor sich auf den Tischen.
Das große Geld lässt sich damit nicht verdienen. "Aber alle, die im ,KC Grad' mitmachen, sind sehr bescheiden. Wir haben gelernt, mit wenig Geld umzugehen." Obwohl die freie Szene fast die Hälfte aller Kulturangebote erstellt, bekommt sie dafür nur zehn Prozent des Kulturbudgets. Der Rest bleibt bei staatlichen Einrichtungen.
So eine ist zum Beispiel das Belgrader Kulturzentrum. Die meisten Touristen kennen es, weil es am zentralen Platz der Revolution einen großen Souvenirladen betreibt. "Mit dem bestreiten wir einen großen Teil unserer Ausgaben", sagt die ehemalige Direktorin des Zentrums, Mia David. Vom Staat hat sie für das Jahr 2012 gerade einmal 16 000 Euro zur Verfügung bekommen. Das reicht im Grunde für gar nichts. Dabei ist das Zentrum der letzte öffentliche Ort, der sich um serbisches Kunstverständnis bemüht. Das Museum für Zeitgenössische Kunst sollte 2008 renoviert werden und ist seitdem geschlossen. Und die ständige Sammlung im Nationalmuseum mit Werken von Matisse, van Gogh und Picasso öffnet schon seit zwölf Jahren nicht mehr seine Pforten.
"Die Kunst verschwindet aus dem Bewusstsein der Menschen", sagt Mia David. Erst gab es keine Förderung mehr, dann keine Ausstellungsorte, dann kein Publikum und bald auch keine Künstler. "Es beginnt, wirklich richtig schlimm zu werden", sagt David. "Jeder versucht, an die wenigen Förderfleischtöpfe heranzukommen, um zu überleben. Wir alle sind Freunde und Feinde zur gleichen Zeit."
Eine Etage unter dem Souvenirshop hat Mia David deswegen angefangen, eine Sammlung mit Werken internationaler und serbischer Künstler anzulegen - Schenkungen allesamt. In Neonschreibschrift hat der belgische Aktionskünstler Jan Fabre einen Satz hinterlassen: "I'm a one-man movement." Mia David bleibt davor stehen und lächelt angestrengt. Es fasst die Situation ziemlich gut zusammen - bei jungen Designern im alten Stadtkaufhaus, bei Festivalorganisatoren, Clubbetreibern und Kulturmanagern. Bis auf einen Punkt: Die Köpfe der Bewegung sind hier weiblich.