Drin!
In Kiew wurde ein Technoclub nach dem Vorbild des berühmten Berliner Berghains eröffnet. Er steht für wilde Partys und Freiheit, dort trifft die queere Szene der Ukraine auf deutsche Touristen. Lässt sich ein Mythos kopieren?
ZeitMagazin
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ANNA
»Soll ich über das Harness noch etwas drüberziehen?«, fragt Anna, während sie sich das Ledergeschirr um den nackten Oberkörper schnallt. Ihre Brustwarzen hat sie mit blumenförmigen Aufklebern abgeklebt. Ansonsten trägt sie Shorts, Strumpfhosen und Boots. Prüfender Blick in den Spiegel, suchender Blick zu den Berliner Freunden. Anna ist 36 Jahre alt, heißt aber nicht wirklich so – sie hat um Anonymität gebeten, weil ihr Chef nicht wissen müsse, wie sie ihre Wochenenden verbringe.
Nur 50 Euro hat das Flugticket gekostet nach Kiew, zwei Stunden dauerte der Flug von Berlin aus. Die »Reisegruppe Ost«, wie sich die sechs Männer und sechs Frauen in ihrer Telegram-Gruppe nennen, macht sich in ihrer Airbnb-Wohnung am Maidan, dem zentralen Platz der ukrainischen Hauptstadt, erst einmal einen Sekt auf. Endlich ist Samstag und damit Clubnacht.
Ein paar ziehen schlichte schwarze T-Shirts oder Einteiler an, andere schwarze Netzstrümpfe, schwarze Dessous und grobe Halsketten. Im Club soll vieles sehr ähnlich wie im Berliner Berghain sein, haben sie gehört: harte Tür, harter Dresscode, harte elektronische Musik, harte Drogen. Aber hat das Remake in Kiew auch die Aura des mittlerweile mythischen Originals?
Seit das Berghain 2006 von der New York Times zum »besten Club der Welt« geadelt wurde, gilt es als das Mekka der internationalen Technoszene. Fast alle aus Annas Reisegruppe verloren sich dort regelmäßig zwischen Bässen und Beton, bevor es wegen der Pandemie schloss. Über den ukrainischen Doppelgänger wissen sie nur wenig. Er wechselt die Adresse seiner Website alle Vierteljahre, hat keinen Facebook-, Instagram- oder TikTok-Kanal, erlaubt keine Fotos, gibt keine Stellungnahmen heraus und hat noch nicht mal einen Namen, den man aussprechen kann: ∄ – wie das mathematische Zeichen für »es gibt nicht«. Die Reisegruppe Ost kennt jemanden aus dem Management, der hat sie eingeladen – aber was wirklich abgeht, ist bislang irgendetwas zwischen Hörensagen und Hoffnung.
Anna wirft sich eine dünne Bluse über. »Kann ich ja später noch ausziehen.« Dann klebt sie sich eine Pille in Form eines Herzens mit einem Pflaster in den Slip und ruft ein Uber.
LESHA BEREZOVSKIY
Wenn man das ukrainische Äquivalent zum Berghain finden will, muss man zunächst Friedrichshain und Kreuzberg von Kiew finden. Wo die Dichte von E-Rollern und Ramen-Bars am höchsten ist, liegt das Stadtviertel Podil. In diesem Viertel liegt auch das ∄.
Lesha Berezovskiy, 30, der Fotograf dieser Geschichte, wartet am Tag vor der Party in einer Straße, in der Bagger und Schlagbohrer Ziegel-Altbauten wegreißen und Platz für neuen pragmatischen Wohnraum schaffen. »Die waren vor einer Woche noch nicht da«, sagt Lesha. »Geht schnell, die ganze Veränderung.« Er wirkt abgeklärt. Lesha und seine Freunde kennen nichts anderes als die Veränderung: Revolution, Krieg, Gentrifizierung. Ein Pendeln zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht.
Er geht in ein ehemaliges Kaufhaus, wo einer seiner Freunde gerade Fotoarbeiten ausstellt: Im schummrigen Kerzenlicht und zu ohrenbetäubendem Krach, der aus den Lautsprechern tönt, erkennt man Naturaufnahmen von Zweigen, Ästen und Sonnenuntergängen. »Entfremdung« heißt die Arbeit und wirkt, als hätte sich der junge Fotograf vom desolaten Jetzt komplett abgewandt. Als wäre das Ausblenden, das »es gibt nicht« des Club-Symbols ∄, auch seine innere Haltung und vielleicht sogar die seiner ganzen Generation.
ANNA
Annas Taxi hält in der Kyrylivska 41. Die Adresse ist oft auch die inoffizielle Bezeichnung vom ∄. Manchmal auch Kyryl 41 oder nur K41. Es ist halb zwei nachts. Hinter dem Tor warten Menschen in einer kurzen Schlange zwischen Absperrgittern.
Bei Tag sieht man in der Straße nur wenig Party-Publikum, sondern Arbeiter, Tankwarte und streunende Hunde. Das ∄ liegt nicht direkt im Hipsterzentrum von Podil, sondern in dessen derzeit noch industriell geprägten Ausläufern. Aber auch dort werden leer stehende Häuser abgerissen, neue Mietwohnungen gebaut.
Das Gebäude des Clubs beherbergte einmal eine Brauerei. Geblieben sind verrußte Schlote, bröckelnde Backsteinfassaden. Teile des Daches sind mit Planen gesichert. Um bis dorthin zu gucken, muss Anna den Kopf in den Nacken legen. Wie auch das Berliner Berghain ist das ∄ ein hoher wuchtiger Klotz, ein silberfarbenes Metalltor und hohe Mauern halten unerwünschte Personen draußen. Auf eine Wand sind Graffiti gesprüht: »We dance together, we fight together« und »Be queer, do crime«.
SOPHIIA LAPINA
»Mit Kyrylivska 41 hat sich in Kiew viel verändert«, sagt Sofiia Lapina. Sie hat als Treffpunkt am Vortag des Raves das What-you-want-Café vorgeschlagen. Was sie will, weiß die 31-Jährige gut: Sie ist so etwas wie der Kopf der Techno-affinen Szene von Lesben, Gays, Bisexuellen, Transmenschen und Queers (LGBTQ) in Kiew und erzählt, welche politische Dimension der Club hat.
Es sei nämlich so: In der Ukraine hätten es queere Menschen immer noch schwer. In Schule, Beruf, Alltag würden sie mindestens als ungewöhnlich wahrgenommen, schlimmstenfalls zusammengeschlagen. Die Polizei schütze sie nur bei medienwirksamen Spektakeln wie der eher national ausgerichteten Demonstration Kiew Pride, tatsächlich sei das ganze Land noch unglaublich homophob. Kiew sei ein Fluchtpunkt für viele, weil es liberal und progressiv sei, Hauptstadt eben. Aber die Szene sei gespalten: Es gebe die älteren Homosexuellen, die schon länger ihre Schwulenclubs und -bars haben. Doch dort fühlten sich viele LGBTQ nicht wohl, es wehe da eine Art postsowjetischer Geist mit viel Alkohol, russischer Musik und Transphobie.
Sofiia sagt, sie kümmere sich mit ihrer Organisation Ukraine Pride vor allem um die jüngeren Queers. Ihre Proteste sind keine Demos mit Bannern, sondern Raves – Tanzen, Freude, Hedonismus. Auf der Rave Pride, einer lautstarken Demo, die Sofiias Organisation im Juli vor dem Präsidentenpalast veranstaltet hat, zeigte die queere Szene ihr wahres, nämlich buntes Gesicht.
Rave sei ein Raum der Selbsterkenntnis. »Viele LGBTQ sind so schambehaftet aufgewachsen, dass sie ihre eigene geschlechtliche oder sexuelle Identität als etwas Ekliges ansehen. Wenn diese Menschen plötzlich in geschützter Atmosphäre andere Menschen kennenlernen, die genau das feiern, verändert sich etwas«, sagt sie. »Es entsteht ein neues Selbstbild, das nach einer Weile auch bleibt.«
ANNA
Der Heizstrahler wärmt, während Anna und die anderen draußen vor dem Club auf die Corona-Testergebnisse warten. Etwas separiert vom Eingang hat das ∄ eine Teststation eingerichtet. Kurz nach der Eröffnung des Clubs vor zwei Jahren kamen die Pandemie und die Unwägbarkeiten. Es wurde trotzdem weitergefeiert – aber mit Hygienekonzept.
350 Hrywnja, rund 11 Euro, kostet der Eintritt in den erlesenen Kreis. Jeder und jede Einzelne wird vom Türsteher begutachtet, ob er oder sie ins ∄ reinpasst. Was sich in vielen deutschen Clubs schon durchgesetzt hat, ist in Kiew sonst noch eher die Ausnahme: dass sich Clubs ihr Publikum »kuratieren«.
Ins Berliner Berghain lassen die Türsteher nahezu ausschließlich Menschen, denen sie eine positive Einstellung gegenüber Queerness, Drogen und Sex und natürlich elektronischer Musik abnehmen. Auch in Kiew wird an der Tür mit scharfem Blick aussortiert, wer zur Szene gehört und wer nicht. Es geht natürlich um den richtigen Style, viel wichtiger aber ist die richtige Einstellung. Homophobe, faschistische, intolerante Menschen sollen draußen bleiben.
Eine blondierte Dragqueen in schwarzen High Heels, Schleier und Lack-Corsage stöckelt herbei – kommt rein. Ein junger Mann in beigen Cordhosen und dunkelgrünem T-Shirt – kommt nicht rein. Anna buchstabiert ihren Namen, der Türsteher guckt auf die Gästeliste – kommt rein.
IVAN UND TIMUR
Am Samstagnachmittag, ein paar Stunden bevor Anna ins ∄ eingelassen wird, ziehen Ivan und Timur die Köpfe ein. Sie laufen die breite Nyzhnii-Val-Straße hinunter, die das Viertel Podil durchschneidet – es beginnt gerade zu regnen. Die Zigaretten zwischen den Fingern werden nass, müssen aber sein.
»Wir sind enttäuscht!«, sagt Ivan, freier Kulturjournalist und Musiker. Sein Freund Timur, ebenfalls experimenteller Elektromusiker, nickt und ergänzt: »Und wütend! Alle in Kiew wussten, dass hinter dem neuen Club ein Oligarch steckt, aber keiner hat mal weiter gefragt oder diskutiert.« Wer ist das, wo kommt das Geld her, wollen wir das? Weil der Club keine Informationen herausgibt, fingen die beiden an zu graben.
Timur wurde einmal eingeladen, einen seiner Tracks auf dem Label des Clubs zu veröffentlichen. Er recherchierte zunächst über die Firma, die in dem Vertrag genannt war. Zusammen mit Ivan entdeckte er schließlich insgesamt drei Firmen, die mit dem Club, dem Gebäude und dem Grundstück des ∄ in Verbindung stehen. Sie führten zu einem Namen: Andrey Verevskiy.
Verevskiy ist einer der reichsten und einflussreichsten Oligarchen des Landes. Sein Agrikulturkonzern Kernel Holding ist der größte Produzent und Exporteur von Sonnenblumenöl weltweit und der größte Produzent und Exporteur von Getreide in der Ukraine. Der offizielle Sitz des Konzerns liegt in Luxemburg. Verevskiy saß jahrelang für unterschiedliche Parteien im ukrainischen Parlament und dort mehrfach im Agrarausschuss. Forbes schätzte sein Vermögen 2013 auf eine Milliarde US-Dollar.
Dass reiche Menschen Kultur finanzieren, ist üblich. Aber dass sich das ∄ als Ort der Subkultur und des politischen Widerstands inszeniere, ärgert die beiden 26-Jährigen. »Das ist fake«, sagt Timur. »Kyrylivska 41 ist ein Laden voller Privilegierter.«
Timur ist bisexuell, Ivan bezeichnet sich selbst als agender, möchte sich also weder als männlich noch als weiblich zuordnen lassen. Aber beide kommen in das ∄ nicht rein. Zum einen hätten sie bereits in der Vergangenheit nicht die Einlasskontrolle passieren können, weil ihre Anmutung wohl »nicht hart und sexy genug« sei. Zum anderen glauben sie, seit ihrer Veröffentlichung über die Hintergründe des Clubs auf ihrem Blog und ihren Social-Media-Kanälen dort sowieso nicht mehr erwünscht zu sein. Vor allem aber wollen sie selbst nicht mehr hingehen.
Natürlich sei der Club ein Schutzraum für Queers, aber er setze mit seiner Ausstrahlung auch eine Dynamik in Gang, die die beiden kritisch sehen: Gentrifizierung. Dieser Club mache Podil zu einem noch wertvolleren Viertel für Investoren. Viele marginalisierte queere Personen und Künstler seien aber nicht reich. Sie würden sich früher oder später sozusagen selbst verdrängen. »Beim Rave geht es um Ermächtigung, um Entfaltung«, sagt Ivan. Und dieser Club sei auf Oligarchengeld aufgebaut – dem Vermögen einer Person, das zum System der Unterdrückung gehöre.
Eine Anfrage des ZEITmagazins an Kernel Holding, inwiefern Andrey Verevskiy mit dem ∄ in Verbindung stehe, blieb unbeantwortet.
ANNA
Nur weil der erste Türsteher genickt und einen Stempel auf ihren Unterarm gedrückt hat, heißt das nicht, dass Anna und ihre Freunde drin sind. Beim Sicherheits-Check hinter der Tür durchwühlt ein zweiter Türsteher mit Gummihandschuhen Annas Bauchtasche, tastet sie von oben bis unten ab. »Any drugs?«, fragt er, Anna schüttelt den Kopf. »Phone?« Er klebt einen runden Smiley-Sticker in Regenbogenfarben auf die Kamera ihres Handys. Es ist vielleicht der entscheidende Moment des Abends, weil durch diesen lustigen Aufkleber etwas versucht wird, was im digitalen Zeitalter des ständigen Filmens, Fotografierens, Streamens eigentlich nicht mehr möglich ist: dass alle Gäste sich unbeobachtet fühlen.
Wer verbirgt sich hinter dem schwarzen Schleier der Drag-Witwe? Wie viel Ketamin wird die halb nackte Frau im grobmaschigen Netzkleid gleich ziehen? Wie viele Geschlechtsteile wird der wasserstoffblonde Junge am Abend berühren?
»What happens in Vegas, stays in Vegas« – die viel zitierte hedonistische Grundregel war vor der Erfindung des Smartphones wesentlich leichter durchzusetzen. In deutschen Technoclubs ist die No-Photo- Politik deswegen mittlerweile meist Standard, in Kiew hat das ∄ damit angefangen, andere Clubs ziehen allmählich nach.
THOMAS KARSTEN
Thomas Karsten kennt alle architektonischen Geheimnisse des ∄. Mit seiner Partnerin Alexandra Erhard vom Berliner Büro studio karhard hat Karsten, 55, einst das Berliner Berghain ausgebaut. Vor fünf Jahren begann er die 150 Jahre alte Brauerei in Kiew zunächst zu begutachten und dann mit lokalen Partnern zu entwickeln.
Seinem ukrainischen Bauteam zeigte er das Berghain: Wie breit sind dort die Flure, wie wird gelüftet und geheizt, wie funktionieren die Wege und Räume? »Alles Dinge, die der normale Clubbesucher nie wahrnimmt, die aber für das reibungslose Funktionieren eine große Rolle spielen«, schreibt Karsten per Mail. Es ist auffällig, dass es auch in Kiew weder an der Bar noch bei den Unisex-Toiletten lange Warteschlangen gibt. Alles ist geräumig und effizient.
Er habe das Berghain nicht kopieren wollen oder sollen, so Karsten, aber natürlich hätten sie dem Ganzen auch »ein wenig ›Berghain-Spirit‹ einimpfen« wollen. Die Garderobe sei beispielsweise komplett kopiert, die ganze Ästhetik ist ähnlich: verschiedene Arten von Beton und Edelstahl. Zusätzlich Gussasphalt, Schaumstoff, Latexvorhänge – was aber auch damit zu tun hat, dass diese Materialien einiges aushalten können. Und müssen.
ANNA
Drin! Anna gibt ihre Tasche an der Garderobe ab und hängt sich die Kette mit dem Metallchip um den Hals. Kann so nicht verloren gehen, egal, wie wild es wird. Auf dem Tresen stehen Schalen mit Oropax und Tütchen mit einer Plastikkarte und Ziehröhrchen, Zubehör zum Drogennehmen. »Wird offenbar laut und doll hier drin«, sagt sie. Ein Glatzkopf mit Lederweste neben ihr versorgt sich damit und reagiert überraschenderweise auf Deutsch: »Deswegen sind wir doch da!« Noch mehr deutsche Rave-Touristen also.
Anna und ihre Freunde wollen direkt auf die Tanzfläche. Der Weg dorthin führt entlang an großformatigen Bildern, eines zeigt einen erigierten Penis, ein anderes gespreizte Beine mit Loch in der Strumpfhose. Die Drag-Witwe sitzt auf moluskenartigen Dingern, die aussehen wie zusammengeschmolzene Dildos, und guckt gelangweilt. Weiter am klobigen Bartresen vorbei gelangt die Reisegruppe Ost schließlich ins neblige finstere Herz des Clubs, zur Tanzfläche. Schemenhaft zucken Gestalten im Stroboskoplicht. Der Bass hämmert von den Fußsohlen durch den Körper hoch bis zur Schädeldecke. Anna greift in den Slip: das rosafarbene Pillen-Herz.
Dreißig Minuten später sitzt sie auf der Betontreppe, die zur zweiten Ebene führt, und wird emotional: »Ich bin so unfassbar privilegiert!«, schluchzt sie. »Dass ich so einfach hierherfliegen kann. Dass alle meine besten Freunde dabei sind. Dass ich meinen Körper akzeptiere. Das ist doch alles so ein gewaltiges Glück!« Weitere dreißig Minuten später steht sie draußen vor der Tür neben der immer länger werdenden Schlange. »Muss mal kurz runterkommen.«
BEN SHINDER
Ben Shinder ist seit 48 Stunden auf den Beinen, es ist fünf Uhr morgens. Erst war er auf dem Elektrofestival »Strichka« im nicht weit entfernten Club Closer, dann ist er schnell ins ∄.
Ben ist in Tel Aviv geboren und hat in Berlin mehrere Unternehmen gegründet, die alle etwas mit Mode oder Techno zu tun haben. Im Moment produziert der 31-Jährige zum Beispiel »Das Techno Team«, eine Social-Media-Plattform, wo Musik und Mode in Tanzvideos zusammenfließen.
»Ich hab einen harten Crush on Kiew«, sagt Ben im Hin-und-Her-Denglisch. Er spüre eine Energie in der Stadt, die er aus seinen anderen Wahlheimaten kenne: dieses harte Aufeinanderprallen von Systemen und Weltanschauungen.
Zwischen solchen starken politischen Polaritäten passiert etwas, das vielleicht nur jene Berliner Raver noch kennen, die in den Neunzigern mit schweren Plateauschuhen in die Panorama-Bar – einen Teil des Berghains – marschiert sind und dort den Kalten Krieg, die Mauer, die enttäuschten Hoffnungen für sich endgültig in den Boden gestampft haben.
»Aber Berghain ist mittlerweile mehr nur ein Begriff als ein konkreter Ort. Es gibt Berghain-Phänomene wie The Block in Tel Aviv und Bassiani in Tiflis.« Alles Orte zwischen Extremen.
ANNA
Die Zeit beginnt zu zerfallen. Wie lange steht Anna schon in der Mitte ihrer Berliner Reisegruppe Ost und hämmert mit den Fäusten in die Luft? Es ist vielleicht erst drei Uhr morgens. Oder doch schon sechs? Weiß keiner mehr. Neben ihr windet sich Annas beste Freundin mit geschlossenen Augen und glücklichem Lächeln, der Kimono umweht die schlangenhaften Bewegungen. Ein anderer Kumpel ist auf dem Klo und legt irgendwas zum Wachwerden nach. Ein Pärchen tritt sich im Bass fest. Er brüllt: »Ist schon wie das Berghain in klein!« Sie erwidert: »Aber sauber! Hier kannst du ja sogar was auf dem Boden abstellen! Würde ich im Berghain nie!«
Ringsum ist jetzt Sonnenbrillenzeit: Um die geweiteten Pupillen vor dem zuckenden »Strobo« zu schützen, haben Raver ihre Neunzigerjahre-Sportbrillen auf der Nase. Personen in Stringtangas und Strumpfmasken tänzeln vorbei, Männer mit freiem Oberkörper verschaffen sich Platz, Langhaarige schütteln tranceartig ihre Mähnen. Namen, Geschlechter, Herkunft – alle Zuordnungen sind sehr egal, wenn sich der Track unendlich hochschraubt. Schweiß glänzt. Unterkiefer mahlen. Hände hoch zur Decke, zum Himmel, zur Unendlichkeit.
RUSLAN MAYS
»Techno ist ein Moment«, sagt der DJ Ruslan Mays. »Das kannst du nicht in einzelne Tracks zerlegen. Es ist ein Zustand, der alle und alles miteinander verbindet.«
Mays, wie er sich auch als DJ nennt, hat an diesem Abend die Clubnacht eröffnet. Nach ihm legten hauptsächlich aus Berlin eingeflogene DJs auf – wie Kaiser oder Fadi Mohem.
Mays sitzt vor einem Latexvorhang bei der Garderobe, ein Freund dolmetscht für ihn, weil er unbedingt etwas sagen möchte: Das ∄ habe ihm die Musik wiedergebracht. Der 40-Jährige hat schon seit seiner Jugend in Odessa Elektromusik aufgelegt, erst für Freunde, dann auf Festivals, dann für ein Label. Er zog nach Kiew, wo sich die ukrainische Technoszene sammelte, wollte von dort aus weiterjetten in die Welt. Freunde von ihm waren bereits nach Berlin abgehauen, legten regelmäßig auch im Berghain auf. Die große Freiheit – er wollte das auch.
Und dann kam der Euromaidan, jene Demonstrationen 2013 und 2014 gegen die prorussische Regierung von Viktor Janukowitsch, dann kam der Krieg auf der Krim, dann sein Burn-out. »Ich konnte doch nicht einfach weiterspielen, wenn nebenan gekämpft wird«, sagt er. Wozu denn auch. Da war ja nur noch Schmerz.
»Als ich zur ersten Party hier im ∄ war, war der Boden noch voller Staub und Schutt.« Alles ein bisschen so kaputt und roh wie sein Inneres. Aber inmitten des Staubs sei etwas passiert. Er habe eine neue Energie gespürt, erzählt er, als hätte die Stadt wieder einen Motor, der auch ihn antrieb. »Wir ukrainischen DJs werden jetzt anders wahrgenommen. Früher waren wir überall die Underdogs.« Dieser perfekt kuratierte, perfekt ausgestattete, perfekt inszenierte Club bringt die ukrainische Technoszene auf ein anderes Level. »Wir begegnen anderen Ländern jetzt auf Augenhöhe. Wir gehören dazu.«
ANNA
Es ist nicht völlig dunkel im Darkroom. Dezentes Rotlicht scheint unter den Bänken in den vielen Nischen des Labyrinths hervor, sodass Anna zumindest noch den Typ mit dem nackten Oberkörper und der rasierten Brust erkennt, den sie gegen sieben Uhr morgens an der Bar kennengelernt hat.
Abgeschirmt von den anderen Räumen hört sie in den Nischen Stöhnen, Klatschen und Gurgeln. Anna war noch nie in einem Darkroom, der in den meisten Clubs und Saunen auch nur von schwulen Männern für anonymen Sex aufgesucht wird. Mit dem Berliner Berghain ist der Darkroom für alle Geschlechter und sexuellen Präferenzen geöffnet worden – und auch das wurde nach Kiew exportiert.
Der oberkörperfreie Mann zieht Anna an ihrem Leder-Harness zu sich ran. Es ist mehr als Knutschen, aber weniger als Sex. Manchmal kommen andere Männer vorbei und fragen, ob sie mitmachen dürfen. Anna schickt sie weg. In der Kabine nebenan hört sie ein Mädchen sagen, dass es gerade seine Unschuld verloren habe. Ihr vergeht die Lust, der Vibe ist weg.
Im Club herrscht jetzt akustischer Brutalismus. Die Blicke sind stur, die Bewegungen tranceartig. Jetzt brettert jeder nur noch seinen eigenen Trip entlang. Die anderen aus der Reisegruppe sind irgendwie weg und das Geld auch. Wenigstens der Garderobenchip ist noch da. Anna zieht die Bluse über den Ledergurt und tritt ins Helle.