Die Vegane Armee Fraktion
In Niedersachsen brennen Hühnerställe, in Hessen erhält eine Pelzlobbyistin Morddrohungen: Wie militante Aktivisten mit Gewalt für Tierrechte kämpfen
Die Zeit / Dossier
Sie wartete, bis sich die Dunkelheit auf die Stoppelfelder senkte. Dann entrollte Anita Buschow* ihre schwarze Mütze zu einer Maske. Sie erinnert sich noch daran, wie das Benzin in den Plastikflaschen schwappte, die sie in einer Tasche mit sich trug. In der Ferne zeichnete sich der Umriss des Fleischereibetriebs ab, und Anita schaute sich noch einmal das Gelände an, das sie schon so gut kannte. In den zwei Monaten zuvor war sie häufig hier gewesen, mal montags, mal dienstags, mal morgens, mal mittags, mal abends. Bis sie den Betriebsablauf an allen Werktagen und zu allen Tageszeiten kannte. Stundenlang hatte sie im Schutz einer Böschung auf dem Boden gelegen und beobachtet, was auf der anderen Seite des Zaunes vor sich ging.
Wann kommen die Fleischlaster, wann die Arbeiter, wann rückt der Wachschutz an?
Im Dunkeln rauchte sie eine Zigarette nach der anderen und drückte ihre Kippen in einem Glas aus, das sie wieder mitnahm. Niemand außer ihren Komplizen durfte von dieser Aktion wissen. Niemand sollte beweisen können, dass sie an diesem Ort war. Auch heute darf niemand erfahren, wann und wo sich die Attacke zutrug, von der Anita Buschow erzählt. Deswegen berichtet sie davon nur vage. Zu viel steht für sie auf dem Spiel: das erste Leben, das sie neben diesem verborgenen zweiten führt.
In Hohenhameln, Niedersachsen, tritt dem Bauern Michael Löhr der Schweiß auf die Stirn. Es ist warm in seinem Hühnerstall, 29,9 Grad. Luftfeuchtigkeit: 78 Prozent. Alles im Plan. Vor einer Woche hat Löhr eine neue Lieferung bekommen, jetzt piepsen 39 000 gelb gefiederte Küken im Halbdunkel der Halle. Es riecht süßlich, mistig, feucht. Löhr zieht sich einen dunkelgrünen Overall an, steigt in die Gummistiefel und beginnt seine Morgenrunde. Mit einem Kescher in der rechten Hand und einem schwarzen Eimer in der linken schreitet er die Futterlinien ab. »Die Brut hatte einen Magen-Darm-Keim«, murrt er. Nun sterben ihm die Hühner weg. Mit dem Kescher fischt Löhr tote Tiere vom Boden. Kranke Küken schnappt er, betäubt sie mit einem Nackenschlag und bricht ihnen am Henkel des Eimers das Genick.
32 Kadaver zählt Löhr an diesem Morgen. Den Eimer entleert er in einen Container vor dem Stall. Am Zaun, der das Gelände umgrenzt, hängt ein Schild: »Wertvoller Tierbestand. Betreten der Anlage verboten«. Kameras überwachen jeden Winkel.
Löhr ist Landwirt, und wenn er Küken das Genick bricht, dann gehört das zur Alltagsarbeit eines Bauern. Löhr zählt nicht zu den verrufensten Figuren seiner Branche. Sein Hof ist nicht überdurchschnittlich groß und auch nicht durch Gesetzesbrüche aufgefallen. Er ist ein ganz normaler Mastbetrieb. Doch es gibt Menschen, die es zornig macht, dass als normal gilt, was Löhr in seinem Stall tut.
Anita Buschow war schon lange davon überzeugt, dass Menschen nicht das Recht haben, Tiere auszubeuten oder zu töten. Seit Längerem lebte sie vegan, verzichtete also auf alle tierischen Produkte wie Fleisch, Eier, Milch und Leder. Kein Lebewesen dürfe für die Bedürfnisse eines Menschen leiden – für diese Sichtweise hatte Anita demonstriert, doch sie hatte das Gefühl, allein mit den legalen Mitteln der Demokratie sei an der Lage der Tiere nichts zu ändern. So war es in ihren Augen bloß eine »konsequente Fortsetzung anderer Protestformen«, als sie entschied, ihre Überzeugung über das Gesetz zu stellen. Sie sprach ein paar Freunde aus der Tierrechtsszene an: Leute, die sie schon lange kannte und von denen sie glaubte, dass sie so wütend waren wie sie. Wütend genug für das, was sie eine »direkte Aktion« nennt.
Die Freunde begannen, Farbbeutel an Pelzgeschäfte zu werfen und Jägerhochsitze umzukippen. Wie man einen Brandsatz mit Brandverzögerung baut, lasen sie in der Mundorgel für Militante, einem Praxisratgeber für Autonome. Auf Seite 72 die Überschrift »Nobelkarossentod« – darunter eine detaillierte Anleitung.
In Hohenhameln zeugen noch heute rußgeschwärzte Bleche und abgesplitterte Fassadenteile von dem heftigsten Zornesausbruch, den der Bauer Michael Löhr bisher erfahren hat. In einer nebligen Oktobernacht im Jahr 2011 entflammten an seiner Mastanlage drei Brandsätze. In einem Bekennerschreiben hieß es: »Allen Landwirt_innen raten wir: Finger weg von Mastanlagen! Sie brennen leicht ab!«
Brennende Ställe, zertrümmerte Lastwagen, Morddrohungen – um das Ausbeuten und Töten von Tieren zu stoppen, kämpfen militante Tierschützer immer häufiger auch mit Gewalt. Michael Löhr ist nur eines von Hunderten Opfern in Deutschland, dem Bundeskriminalamt (BKA) zufolge wurden in den vergangenen zehn Jahren etwa 2100 Anschläge verübt. Die Zahl der als extremistisch eingestuften Straftaten aus dem Milieu ist in dieser Zeit um das Siebenfache gestiegen. Inzwischen setzen die Ermittler schon V-Leute ein, um die militante Szene zu durchdringen. Die fühlt sich der Bewegung der »Tierrechtler« zugehörig, die sich auf Philosophen wie den Australier Peter Singer und dessen Buch Animal Liberation – Die Befreiung der Tiere beruft. Singer plädierte schon in den siebziger Jahren dafür, Tiere aus der Vorherrschaft der Menschen zu befreien (ZEIT Nr. 21/14).
Deutschlandweit sollen es inzwischen 500 bis 1000 Radikale sein, die Angriffe auf Zoodirektoren, Jäger, Metzger, Pelzhändler und Manager von Pharmakonzernen organisieren. Ein Viertel der Attacken findet in Niedersachsen statt, wo jedes zweite Huhn und jedes zweite Schwein in Deutschland gemästet wird, wo zwei der größten deutschen Schlachthöfe stehen und wo sich auch Michael Löhrs Stall befindet.
Die Radikalisierung der Szene begann, wie so oft bei extremistischen Bewegungen, fast unbemerkt. Proteste gegen Nerzfarmen und Versuchslabore hatte es schon früher gegeben, nun kamen Meldungen von Brandanschlägen hinzu. Vor acht Jahren entzündete sich ein Brandsatz an einem Schlachthof in Hannover. Aktivisten warfen die Scheiben des Bauamtes in Celle ein, weil dort Bauanträge für Mastanlagen genehmigt wurden. Sie zertrümmerten Fenster von Fleischereien, zerstörten Kühllaster und hinterließen Botschaften wie »Fleisch ist Mord«. Darunter oft das Kürzel ALF – für Animal Liberation Front. Die Aktivisten haben sich in Kommandos zusammengefunden und nennen sich »Mordpräventionskommission« oder auch »Zornige Bambis«. Viele dieser Kommandos verstehen sich als Zellen der ALF oder der ELF, der Earth Liberation Front.
ALF und ELF haben keine förmlichen Mitglieder und keinen Vorstand. Ihre Zellen wissen wenig voneinander, haben aber ein gemeinsames Ziel: die Ausbeutung von Tieren und der Natur im Allgemeinen mit aller Gewalt zu verhindern. Diese Gewalt dürfe sich nicht gegen Menschen oder Tiere richten, heißt es auf der Webseite der ALF. Ansonsten ist alles erlaubt, was nicht erlaubt ist.
Bis vor fünf Jahren pflanzte der Bauer Löhr – wie zuvor sein Vater und sein Großvater – in Niedersachsen Getreide an. Dann fielen die Weizenpreise dramatisch, und Löhr suchte nach einer neuen Einnahmequelle, die weniger wetter- und spekulationsanfällig ist. Er entschied sich für die Geflügelzucht, besuchte Schulungen, machte ein Praktikum bei einem Hähnchenmäster und schloss sich der Rothkötter Unternehmensgruppe an, die von der Brut über das Tierfutter bis zur Schlachtung alles zentral steuert. Die Manager von Rothkötter schlugen Löhr den Hühnertyp Ross 708 vor, weil dieser besonders viel Brustfleisch hat und genau das liefert, was Rothkötters Abnehmer Aldi, Lidl und McDonald’s wollen: große Hühnerbrüste.
Seit Löhr im Jahr 2011 seine Hähnchenmastanlage in Betrieb genommen hat, schläft er wenig. Sechs Tage in der Woche muss er in den Stall, die Apparate und Tiere überprüfen. Er kämpft mit Darmkeimen, verstopften Futterleitungen – und einem neuen Hass, der ihn überrumpelt hat. Zwar wusste er, dass viele Verbraucher heute Wert auf artgerechte Haltung legen. Der Bioboom war ihm nicht entgangen, auch hatte er schon früh von Anschlägen auf Bauern in der Gegend gehört. Aber wollten die Kunden nicht auch billiges Fleisch? Und war es nicht ein ganz normaler Beruf, den er da hatte?
»Wir sind doch auch nur Menschen«, sagt Löhr.
»Mensch« – bei diesem einfachen Wort fängt für Radikale wie Anita Buschow das Problem schon an. Sie finden nicht, dass ein Mensch mehr wert sei als ein Tier. Für sie gibt es bloß »menschliche Tiere« und »nicht menschliche Tiere«. Beide atmen und fühlen. Beide leiden, wenn man sie schlägt. Beide trauern, wenn man ihnen den Nachwuchs nimmt. Aktivisten fordern deshalb dieselben Rechte für Tiere wie für Menschen. Aber wie weit darf man für seine Ideale gehen?
Fast jede Zeit erzeugt ihre gewaltbereiten Bewegungen – oft dann, wenn sich am Rande einer breiten gesellschaftlichen Strömung Extremisten sammeln. Vom Ende der sechziger Jahre an formierten sich in der Bundesrepublik im linken Milieu gesellschaftskritische Gruppen. Die weniger Radikalen besetzten Häuser und ließen sich an Gleise ketten, manche warfen bei Demonstrationen Steine auf Polizisten. Dahinter stand der Gedanke, dass der kapitalistische Staat bekämpft werden müsse, um den Menschen – speziell den Arbeiter – aus einer Knechtschaft des Systems zu befreien. Eine Minderheit glitt in den Terror ab. Die Mehrheit fand sich wieder in einer neuen Partei, den Grünen.
Ähnlich ist es jetzt bei den militanten Tierrechtlern, die sich als Speerspitze eines gesellschaftlichen Trends sehen, der eigentlich frei ist von Gewalt: In Deutschland interessieren sich mehr Verbraucher als je zuvor für die Herkunft ihrer Lebensmittel, immer mehr Menschen fühlen sich dem Wohl der Tiere verpflichtet. Und nie zuvor waren Großbauern, Schlachthöfe und Mäster einer so großen Skepsis ausgesetzt.
Im Fernsehen kocht der telegene Vorzeigeveganer Attila Hildmann und zeigt dabei seinen gestählten Körper, in Großstädten eröffnen vegane Restaurants und Modeboutiquen, die vegane Supermarktkette Veganz expandiert von Deutschland aus nach ganz Europa. Nach Skandalen um BSE, Dioxin-Eier, Gammelfleisch, Hühnerpest, Antibiotika-Schweine und mit Bakterien verseuchte Wurst haben viele Menschen aufgehört, Fleisch zu essen. In einigen Milieus haben Vegetarier oder sogar Veganer die Meinungsführerschaft erlangt. Heute muss sich zunehmend derjenige erklären, der noch Fleisch isst – und nicht, wer darauf verzichtet. Die radikale Tierrechtsbewegung nutzt den Moment.
Die Aktivisten berufen sich dabei auf ein Konzept, das sich Antispeziesismus nennt. Ausgehend von den Ideen ihres Vordenkers Peter Singer, sehen sie sich als Erben jener Freiheitskämpfer, die erst die Grenzen zwischen den Rassen sprengten und dann die zwischen den Geschlechtern. Nun sollen auch die Grenzen zwischen den Spezies fallen. Nach dieser Logik ist der Antispeziesismus der nächste große Freiheitskampf nach Antirassismus und Antisexismus: Tierbefreier wollen nicht nur Tiere aus Käfigen befreien, sondern jedwedes Lebewesen aus jedweder Herrschaft. Bloß wie?
»Wir hatten das alle noch nie gemacht«, sagt Anita Buschow, wenn sie sich an ihre ersten Versuche erinnert, einen Brandsatz zu bauen. Bei Treffen der Szene und auf Internetseiten erfuhren sie und ihre Freunde, dass andere, die ihre Ziele teilten, offenbar schon den entscheidenden Schritt gegangen waren. Überall in Niedersachsen, so schien es, standen seit einiger Zeit Mastanlagen in Flammen. Anita und ihre Freunde befüllten Flaschen mit Benzin, versahen sie mit Zündern – und testeten die selbst gebauten Brandsätze in einem entlegenen Waldstück. Wenn Anita das Feuerzeug an den Zünder hielt, dauerte es fünf bis zehn Minuten, bis sich ein Feuer entwickelte, das einen Laster oder ein Haus hätte niederbrennen können. Genug Zeit, um zu verschwinden, bevor die Flammen bemerkt würden. Und hoffentlich zu wenig Zeit, als dass noch jemand ins Gebäude gelangen könnte, mit dem man nicht gerechnet hatte.
»Solche Aktionsformen waren für mich moralisch schon immer unproblematisch«, sagt Anita. Im Verhältnis zum massenhaften Mord, der in einem Mastbetrieb geschehe, sei ein zerstörtes Gebäude geradezu harmlos. Wichtig sei, sagt Anita, nur leer stehende Hallen niederzubrennen, zum Beispiel Ställe kurz vor der Fertigstellung, damit kein Tier und kein Mensch zu Schaden komme.
Dass sich aber in jedem Gebäude ein Obdachloser verkrochen haben könnte, dass fliegende Funken in trockenen Sommern ganze Landschaften entzünden könnten, sagt sie nicht.
Ihr Lager, erzählt Anita, hatten sie während der Vorbereitung ihres Anschlags in der Wohnung eines Freundes aufgeschlagen. Sie trugen Ganzkörper-Maleranzüge, Mundschutz, Handschuhe. Einen ganzen Raum hatten sie mit Malerfolie ausgelegt – auf dem Teppich sollten keine Haare oder Hautschuppen zurückbleiben. Keine DNA von allen Mitgliedern der Zelle an einem Ort, das gehört zu den Vorsichtsmaßnahmen. Auf der Folie lagen bereit: Plastikflaschen, Gefrierbeutel, Teppichklebeband, Streichhölzer, Benzinkanister, Draht, Pattex, Brennstäbe aus Taschenwärmern.
Man würde gern genauer erzählen, wie Anita Buschow und ihre Freunde leben, wie sie denken, welche Erlebnisse sie militant werden ließen. Doch die Aktivisten geben kaum etwas Persönliches preis, das man in der Zeitung wiedergeben darf. Man muss ihre Biografien zu einem Prototyp vergröbern. Fasst man zusammen, was die meisten von ihnen kennzeichnet, entsteht dieses Bild: Der gewaltbereite Tierrechtler wohnt eher in der Stadt, nicht auf dem Land. Er stammt aus akademischen Verhältnissen und ist zwischen 20 und 30 Jahren alt. Er studiert noch oder geht schon einem – meist bürgerlichen – Beruf nach. Er lebt gemeinsam mit Freunden in einer Wohngemeinschaft oder allein in einer Mietwohnung. Er geht manchmal ins Kino oder Theater. Er nimmt nicht an Wahlen teil, weil sich kein Parteiprogramm mit seinen Zielen deckt. Er lebt strikt vegan, klebt aber keine Tierrechtsaufkleber an seine Tür. Laut Handbuch der ALF sollen militante Aktivisten ein unscheinbares Leben führen und nicht offen politisch aktiv werden. Wer Brandsätze baut, taucht nicht bei einer friedlichen Blockade irgendeines Schlachthofs auf und versucht auch ansonsten nicht weiter auffällig zu werden.
Man darf sich keinen Vollzeitterroristen wie Andreas Baader vorstellen, wenn man an Öko-Extremisten denkt. Kein Leben im Untergrund, abgekoppelt von Familie und Freunden.
Den sichtbaren Teil der Tierrechtlerszene kann man an einem Wochenende im August bei einem »Aktionscamp gegen Tierfabriken« im niedersächsischen Niendorf beobachten. Etwa fünfzig Schüler, Studenten, Wissenschaftler, Arbeitslose, Freiberufler und Angestellte sind aus ganz Deutschland angereist. Zwischen Blumenbeeten und Seerosenteich haben sie auf einem ehemaligen Bauernhof ein Zeltdorf mit Kompostklo und Solardusche aufgebaut. Es sind etwa gleich viele Männer und Frauen da und auch ein paar, die sich nicht darauf festlegen lassen wollen, ob sie eher Mann oder eher Frau sind.
Während der Gespräche in ihren Zelten reden sie von »Massenmord« und »Tierausbeutung«, draußen rennen Hunde ohne Halsband umher, die nur pflanzliches Futter bekommen.
Der »Massenmord«, den die Aktivisten anprangern, findet auch in zwei Schlachthöfen in der Nähe statt – einer gehört der Rothkötter-Gruppe, der andere der Firma Wiesenhof. Zwei riesige Tiertötungsfabriken. Gerade kommen ein paar Demonstranten von einer 13-stündigen Blockade bei Wiesenhof wieder. Sie haben über Nacht auf dem Asphalt campiert und sich mit Fahrradschlössern an die Tore gekettet, um zu verhindern, dass lebende Tiere angeliefert oder tote Tiere abtransportiert werden. Andere Aktivisten malen Transparente für eine Demonstration. Wieder andere treffen sich zu Besprechungen im Materiallager, wo Klettergurte, Schlösser und Traubenzucker bereitliegen.
Im Aktionscamp werden keine Straftaten begangen – man tagt ja quasi öffentlich und unter den Augen der Polizei. Wer mehr über den militanten Arm der Tierrechtsbewegung erfahren will, kann aber der Spur der Bekennerschreiben folgen, die im Internet auf Szeneportalen wie Indymedia oder directaction.info veröffentlicht werden. Der Mann, der diese Schreiben im Auftrag der anonymen Urheber ins Netz stellt, ist Andre Gamerschlag. Mit der ZEIT hat er sich in einem Dönerladen in Leipzig getroffen. Es gibt dort Saitan-Kebab und vegane Soßen, auf dem Tresen liegt die Zeitschrift Tierbefreiung . Gamerschlag ist oft hier, er ist der Sprecher des Vereins die tierbefreier. Er selbst, darauf legt er Wert, tue nichts Verbotenes. Aber er bietet militanten Aktivisten Rechtshilfe an. Es gibt kaum jemanden in Deutschland, der einen so guten Überblick über die militante Szene hat wie er – und der öffentlich darüber redet.
Gamerschlag sagt, dass sich die Tierrechtler viel von anderen linksradikalen Bewegungen abgeschaut hätten. Da sind die Logos der ALF und der Antispeziesistischen Aktion – ein großes, umzirkeltes A und zwei wehende Flaggen, die sehr nach Antifa aussehen. Und da ist die Strategie der »Revolutionären Zellen«, die aus RAF-Zeiten stammt. Die Methode, aus kleinen autonomen Gruppen heraus aktiv zu werden, ist eine übliche Terrortaktik, allerdings versichern die radikalen Tierrechtler, sie wollten nur wirtschaftlichen Schaden anrichten und Angst in der Fleischindustrie schüren. Andre Gamerschlag sagt unverhohlen, Anschläge allein seien zwar »nicht der Königsweg, aber nur Aufklärungskampagnen zu machen, das bringt auch nichts«. Mit illegalen Methoden könne man viel effektiver eingreifen, Firmen schaden, Aufmerksamkeit erregen.
Ein Grundsatz der Szene sei, dass Menschen nicht gefährdet werden sollen? Darüber kann Susanne Kolb-Wachtel nur lachen. Gerade, sagt sie, sammle eine Gruppe von Extremisten im Internet Geld für einen Auftragskiller, der sie umbringen solle. Die Behörden bestätigen ihre Geschichte.
In Kolb-Wachtels Büro im Frankfurter Bahnhofsviertel steht eine hohe Glasvitrine, darin: 22 Ordner. Eine Chronik der Anschläge auf Kürschner und Pelzgeschäfte. »Und das sind nur die achtziger und neunziger Jahre«, sagt sie – fast spürt man ein bisschen Sammlerstolz. Kolb-Wachtel ist Geschäftsführerin des Deutschen Pelz-Instituts, Deutschlands wichtigste Pelzlobbyistin und seit 25 Jahren Hassfigur der Tierrechtler. Auf ihrem Computer hat sie die neuesten Dokumente über die radikale Szene gespeichert. Gerichtsurteile, Zeitungsartikel, Rechtsgutachten.
Susanne Kolb-Wachtel ist keine ängstliche Frau. Es scheint ihr wenig auszumachen, dass sie viele Feinde hat. Einmal bekam sie einen Brief, in dem stand: »Wir machen einen Lampenschirm aus Dir.« Kolb-Wachtel sagt, sie lasse sich davon nicht beeindrucken. »Das ist eben ein religiöser Krieg«, sagt sie – ein Krieg, der schon lange geführt wird. Vor zehn Jahren führten Kampagnen gegen Kaufhäuser und Modegeschäfte dazu, dass Unternehmen wie Kaufhof, Peek & Cloppenburg und SinnLeffers Pelz aus dem Angebot nahmen. Seit einiger Zeit aber kehrt Pelz allmählich in die Mode zurück, vielleicht ein Antitrend zur überall präsenten Biobaumwolle. Und international ist die Pelzbranche ohnehin ein Wachstumsmarkt. Um die radikale Szene auszukundschaften, hat der internationale Pelzverband einen ehemaligen Agenten einer Spezialeinheit der britischen Polizei engagiert.
Auch Jäger berichten von Angriffen: von zerstochenen Autoreifen, ständigen Anzeigen gegen sie bei der Polizei, Psychoterror im Internet. Jäger stehen im Fokus der Tierrechtsaktivisten, weil sie nicht nur vom Tod der Tiere profitierten, sondern angeblich von Mordlust getrieben seien. Deshalb zerstören Aktivisten Tierfallen oder stellen sich auf ein Feld in die Schusslinie zwischen Wild und Jäger. In Deutschland vergeht keine Woche, in der kein Hochsitz angesägt, umgestoßen oder angezündet wird. Allein in den ersten sieben Monaten dieses Jahres wurden mehr als 100 Hochstände zerstört, vom bayerischen Bad Aibling bis Aukrug an der Ostsee. Zu den meisten dieser Anschläge bekannte sich die ALF.
»Meine Nerven halten das nicht mehr aus«, sagt ein Jäger, der genauso anonym bleiben möchte wie seine Kontrahentin Anita Buschow. Jahrelang hat er sich für die Jagd stark gemacht, im Internet und auf der Straße. Es folgten Strafanzeigen und Hasstiraden. Aktivisten schrieben: »Wer Tiere tötet, fickt auch kleine Kinder!« Im Internet wurde seine Telefonnummer veröffentlicht, Militante riefen zu Telefonterror auf. Der Mann könnte eigentlich erklären, warum ein Wald einen Jäger braucht. Warum es dem Ökosystem und damit auch den Tieren schaden kann, wenn eine Horde Wildschweine zu groß wird. Aber er traut sich nicht mehr. Er schweigt. »Die wollten mich mundtot machen«, sagt der Jäger, »und haben es auch geschafft.«
Er geht weiterhin auf die Jagd und verkauft Wildfleisch, aber er tritt nicht mehr öffentlich auf. »Ich glaube, dass wir den Kampf verloren haben«, sagt er. »Wir sind die Jungs von vorgestern mit den grünen Klamotten und dem Hubertusmesser.« So sähen es nicht nur ein paar Extremisten, dahinter stehe »eine ganze gesellschaftliche Allianz«.
Wenn der Hähnchenmäster Michael Löhr in seinem Büro die Fransengardine zur Seite schiebt, sieht er draußen hinter einem Maisfeld seinen grün gestrichenen Stall. »In Tarnfarbe«, sagt er und lacht bitter. Als bekannt wurde, dass Löhr eine Hähnchenmastanlage bauen wollte, brach ein Sturm der Entrüstung los. 165 Einwendungen gegen den Bauantrag wurden eingereicht – nicht nur von Nachbarn, sondern von Menschen aus ganz Deutschland. Vor seinem Wohnhaus zündeten Tierrechtsaktivisten und andere besorgte Bürger Grabkerzen an, tranken Tee und hielten Transparente hoch. Löhr saß gerade am Abendbrottisch, als die Demonstranten vor seinem Haus aufmarschierten. Sein kleiner Sohn klammerte sich verängstigt an ihn.
Solche »Home Visits« sind eine beliebte Aktionsform, weil sie strafrechtlich kein schwerwiegendes Delikt sind: allenfalls Hausfriedensbruch und ein Verstoß gegen das Versammlungsrecht, falls die Demonstration nicht angemeldet war. »Aber die Wirkung auf Entscheidungsträger kann groß sein«, sagt ein BKA-Beamter. In Nordrhein-Westfalen wurden Mitarbeiter von Pharmaunternehmen und Tierversuchslaboren zu Hause besucht und über Megafon als »Affenmörder« und »Tierquäler« beschimpft. »Wer das zwei, drei Mal erlebt hat, überlegt sich, ob er nicht aussteigt«, sagt die Anwältin Barbara Schramm aus Köln, die mehrere Manager von Versuchslaboren und Modemarken betreut hat. Gegen einige Aktivisten hat sie gerichtlich Bannmeilen von 200 Metern um die Privatgrundstücke ihrer Mandanten durchgesetzt.
Der Bauer Löhr hat keine Bannmeile um seinen Hof. Ein Nachbar spannte an seinem Haus ein Protestplakat gegen Mastanlagen auf, im Ort trugen Bürgerinitiativen symbolisch den Dorffrieden zu Grabe. Im Supermarkt wurde Löhr nicht mehr angeschaut, im Internet las er böse Kommentare über sich.
Damit erging es Löhr noch besser als einigen befreundeten Bauern, die auch Hühner mästen wollten, um sie an einen neuen Riesenschlachthof der Rothkötter-Gruppe in der Nähe zu liefern. Drei neu gebaute Ställe brannten ab. Ein Bauer hatte einen Schaden von einer Million Euro zu verbuchen – seine Versicherung verlangte nun von ihm, seine Ställe besser zu sichern. Kosten: 80 000 Euro. Ein anderer Landwirt fand eine Patronenhülse in der Post. Auf die Einfahrt eines Hofes sprayten Militante: »... noch hast du die Wahl, deine Taten haben Konsequenzen! A.L.F.« Die Kinder der Bauern wurden in der Schule gemobbt, wagten sich kaum mehr aus dem Haus. Am Ende zogen mehrere Landwirte die Bauanträge für ihre Hühnerställe zurück. »Die Anschläge und Bedrohungen haben in der Region ein Klima der Angst und Verunsicherung verbreitet«, sagt Franz-Josef Rothkötter, der Betreiber des Großschlachthofs.
Auf der Facebook-Seite eines ALF-Sympathisanten werden radikale Mitstreiter gewarnt: »Wenn du dich entschlossen hast, im Untergrund der Tierrechtsbewegung aktiv zu werden, gibt es kein Zurück mehr. Du wirst ein schweres und stressreiches Leben führen mit ständig drohenden Verhören und Festnahmen.«
Dabei wurde bislang kein einziger Brandanschlag in Niedersachsen aufgeklärt. In den vergangenen zehn Jahren sind in ganz Deutschland nur nach drei Gewaltaktionen die Täter verurteilt worden, sagen Ermittler. Das sind weniger als ein Prozent aller Taten. »Wir wissen einfach zu wenig«, sagt ein hochrangiger Staatsschützer eines Landeskriminalamts, der ungenannt bleiben will. Er ist seit 40 Jahren Polizist. Die radikale grüne Szene, die sich auf Demonstrationen und bei Blockaden zeigt, kennt er gut. Fragt man ihn, warum er so selten militante Täter fasst, dann schaut er lange aus seinem Fenster. »Uns fehlen einfach die Klärungsansätze«, sagt er schließlich. Es gibt keine Überläufer, keine Aussteiger, die der Polizei irgendetwas über die Vorgehensweise der sogenannten Zellen verraten. Und die Extremisten schützen sich gut: Nie sprechen sie während ihrer Telefonate über ihre Aktionen. Oft benutzen sie Tarnnamen. Und wenn sie Bekennerschreiben verschicken, dann tun sie das über anonyme Internetserver in der Türkei. Die Szene agiert international – doch die Polizei ermittelt auf regionaler Ebene. Meist gibt es in den Landeskriminalämtern nur einen Staatsschutzmitarbeiter, der sich mit dem Thema auskennt. Länderübergreifende Treffen der Beamten finden nicht statt. »Wir kennen die Zellen schlichtweg nicht«, sagt der Staatsschützer hilflos.
Um überhaupt Einblick in die verschlossene Bewegung zu bekommen, schleuste die niedersächsische Polizei einen Verbindungsmann in eine Gruppe der Kampagne »Mastanlagen Widerstand« ein. Um das Vertrauen der Szene zu gewinnen, besuchte Ralf G. Gerichtsprozesse gegen Mastanlagenblockierer, betreute Infostände und kundschaftete mit Aktivisten einen Schlachthof aus. Seinem Kontaktbeamten lieferte er Namen, E-Mail-Adressen und Informationen über eine geplante Blockade eines Schlachthofs. Die Polizei verhinderte die Aktion.
Für seine Dienste erhielt Ralf G. vom Landeskriminalamt monatlich etwa 1000 Euro. Nach fast zwei Jahren und auffällig häufiger Polizeipräsenz bei geheimen Aktionen wurde die Szene misstrauisch. Bei einem unangekündigten Besuch bei G. zu Hause fanden die Aktivisten in G.s Kühlschrank: Fleisch. Sie hackten seine E-Mail-Adresse und stießen auf elektronische Post von seinem Führungsoffizier im Kriminalamt. Die technisch versierten Aktivisten hörten G. ab. Der Spitzel war enttarnt.
Das Landeskriminalamt Niedersachsen bestreitet, dass Ralf G. einer seiner Männer gewesen sein soll. Der ZEIT liegen jedoch Dokumente der Staatsanwaltschaft Braunschweig vor, in denen von einem Ermittlungsverfahren die Rede ist, »in welchem der Beschuldigte Ralf G. als V-Mann eingesetzt worden ist«.
Einen Spitzel dürfen Sicherheitsbehörden nur in seltenen Ausnahmefällen einschleusen – dann, wenn sie nicht anders an Informationen gelangen und davon auszugehen ist, dass politische Straftaten geplant werden. Obwohl die niedersächsische Polizei diese Gefahr offenbar sieht, ist die militante Szene »kein Beobachtungsobjekt« der Geheimdienste – weder für das Landesamt in Hannover noch für das Bundesamt für Verfassungsschutz in Berlin. Die radikalen Tierrechtler tauchen in keinem Verfassungsschutzbericht auf.
Die Gruppen mögen einzelne extremistische Taten verüben, doch sie gelten weder als »terroristische« noch als »kriminelle Vereinigung«. In den meisten Fällen kann die Polizei deshalb nur wegen vergleichsweise harmloser Delikte wie Hausfriedensbruch oder Sachbeschädigung ermitteln. Das bedeute, dass ein Staatsanwalt nur selten eine Telefonüberwachung oder eine Hausdurchsuchung genehmige, sagt ein BKA-Ermittler. Ihm und seinen Kollegen bleibe meist nur, die verkohlten Reste eines Stalls zu untersuchen.
An dem Tag, an dem sich Anita Buschow darauf vorbereitete, eine Fleischereifabrik und mehrere Laster anzuzünden und einen Millionenschaden zu verursachen, lief alles so, wie sie es geplant hatte. Die Brandsätze waren gebaut, die Klamotten aus verschiedenen Secondhandläden zusammengesucht, das Auto war von einem Unbeteiligten geliehen. Das Bekennerschreiben war formuliert und mit »ALF« unterschrieben.
Als müssten sie sich noch einmal ihrer Ziele vergewissern, suchte einer von Anitas Freunden bei YouTube den Film Erdlinge und spielte ihn auf dem Computer ab. In schneller Folge wechselten brutale Bilder auf dem Bildschirm: Schweine im Todeskampf, Hunde in winzigen Käfigen, Menschen, die mit Stöcken auf Hühner, Schweine, Elefanten eindreschen, Füchsen den Pelz vom blutigen Leib reißen, Affen in Plastikröhren stopfen, Küken in Kisten werfen. Eine Stimme aus dem Off sagte: »Die Zeit ist für jeden von uns gekommen, unsere Essgewohnheiten, unsere Traditionen, unsere Mode, unseren Lebensstil und vor allem unser Denken zu ändern.«
Anita und ihre Freunde steckten die Plastikflaschen mit dem Benzin in ihre Tragetaschen. Sie zogen los.