Der verlorene Sohn

Der verlorene Sohn

Eine Familie in Äthiopien hat viele Kinder und kein Geld, um sie zu ernähren. Eine deutsche Familie hat Geld und will ein Kind. Zwischen ihnen vermittelt eine Agentur. Ein Geschäft mit der Hoffnung.
tageszeitung / tazzwei

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Was hat er nur getan? Abadi Kebede* verharrt zusammengekauert auf einem Holzschemel. Er will nicht mehr über die Sache reden. Will sich nicht mehr an die Details erinnern. Will sich nicht mehr schuldig fühlen. Es ändert ja doch nichts daran, dass er in dieser runden Lehmhütte mit Strohdach wohnt, in der dichter Rauch eines Holzfeuers hängt. Seine Kleidung ist zerrissen und hat die gleiche rotbraune Farbe wie der Lehm, aus dem er sein Haus bei Shinshizo im Süden Äthiopiens gebaut hat. Das Geld seiner Tagelöhner-Arbeit in einer Holzfabrik reicht nicht für neue Hemden - es reicht nicht einmal, um seine Familie satt zu bekommen. "Von meinen fünf Kindern wohnt nur noch eines hier", sagt Kebede. Eins wird von der Großmutter aufgezogen, zwei sind bei der Schwester. Und das fünfte?" Die Leute hier sagen, ich hätte meinen Sohn nach Deutschland verkauft."

Ein äthiopischer Vater will seinem Kind helfen

Das ist die Geschichte des äthiopischen Jungen Edo*, der mit kaum drei Jahren aus seinem alten Leben gerissen wurde.

Sein Weg in ein neues Leben verbindet einen Vater in Äthiopien, der auf ein besseres Leben hofft, mit einer deutschen Frau, die für ein gesundes Baby fast alles tun würde. Er erzählt von dem Überlebenskampf eines äthiopischen Waisenhauses, das seine Schützlinge zum Export freigibt, um andere Kinder versorgen zu können. Und er zeigt das Geschäftsmodell einer deutschen Adoptionsvermittlungsstelle, die in guter Absicht ein schlechtes System unterstützt. Sie alle haben große Hoffnungen an Edos Weg in ein anderes Leben geknüpft. Und sie alle wurden enttäuscht - wegen einer Lüge.

Die Geschichte beginnt an einem Nachmittag im Winter vor zwei Jahren. Damals kam ein Mann in die Hütte von Abadi Kebede. Er ging die ausgewaschenen Wege mit den Eukalyptusbäumen entlang, bog in das umzäunte Grundstück ein, setzte sich zu ihm und sprach ein schönes Wort aus, das Kebede nie zuvor gehört hatte: Adoption. "Hör mal", sagte der Mann, an dessen Namen sich der Familienvater wie an seine Worte noch genau erinnert. "Du bist arm, deine Kinder leiden. Gib sie zu einer Familie in den Westen und es wird euch besser gehen. Sie werden eine gute Ausbildung bekommen und euch später unterstützen." Kebede, der selbst nie eine Schule besucht hat, fand die Idee gut.

Damals, sagt er, habe er überlegt: Wenn ein Kind weg ist, dann müsste er nicht mehr hungern. Vielleicht würde die neue, reiche Familie ihm Geld schicken. Dann könnte er Äthiopien verlassen, nach Südafrika gehen, eine richtige Arbeit finden, eine Wohnung mit Wasseranschluss. Seine Träume wuchsen, am Ende waren sie größer als die braunen Augen seines Sohnes. Und ob er Edo nun zu den Nachbarn gebe oder in eine nette weiße Familie, das mache doch kaum einen Unterschied. Oder doch?

"Um ehrlich zu sein, finde ich es schwer zu verstehen, was Adoption bedeutet", sagt Kebede. Es heißt, dass die Deutschen Edo nicht wie den Nachbarsjungen, sondern wie einen eigenen Sohn aufziehen werden. Und dass er sich im Idealfall in 15 Jahren nicht mehr wie das Kind eines armen Äthiopiers fühlt, sondern wie ein privilegierter Deutscher. Mit jeder neuen Erklärung, die Kebede unterschrieb, mit all den Papierstapeln, wuchs seine Hoffnung. Am Ende hat er Edo zur Adoption ins Ausland freigegeben. 

Äthiopien ist eines der wenigen Länder der Welt, in denen die Adoption über Kontinente hinweg noch möglich ist. In der ganzen Europäischen Union beispielsweise dürfen keine Kinder an Eltern außerhalb der EU vermittelt werden. Wie viele es genau in Äthiopien sind, darüber gibt es keine offiziellen Statistiken. Aus einem internen Papier der US-Botschaft in Addis Abeba vom 29. April 2008 geht hervor: Mindestens 3.000 Kinder sollen in dem Jahr in den Westen adoptiert worden sein. Die Zahlen, wird darin befürchtet, würden weiter steigen. Die meisten Kinder finden in den Vereinigten Staaten, Frankreich oder Italien ein neues Zuhause. Für Deutschland verzeichnet das Statistische Bundesamt für das Jahr 2008 genau 47 Adoptionen aus Äthiopien. Ein Jahr später waren es schon doppelt so viele, glaubt man den in Deutschland vermittelnden Adoptionsagenturen: dem Evangelischen Verein für Adoptions- und Pflegekindervermittlung Rheinland und Eltern für Afrika. Diesen privaten Organisationen hat der äthiopische Staat eine Genehmigung erteilt. Die Lizenz, Kinder in ihr Land zu holen. Auch ihre Zahl wächst laut einem vertraulichen Papier der Europäischen Adoptionsvermittlungsstellen vom März 2008 - zuletzt auf 69.

Wegen des starken Anstiegs sprechen Kritiker von einem Adoptionsmarkt, der bestimmt ist von Angebot und Nachfrage. Auf der einen Seite steht eine große Zahl Kinder, die arm aufwachsen. Auf der anderen weiße, wohlhabende Eltern, die sich unbedingt ein Kind wünschen. Das sieht auf den ersten Blick wie eine gute Kombination aus, wenn es nicht auch noch etwas anderes wäre: ein Geschäft. Eine Adoption kostet je nach Agentur und Land zwischen 9.000 und 16.000 Euro. Nimmt man davon den Mittelwert und multipliziert ihn mit den geschätzten 3.000 adoptierten Kindern, hieße das, dass allein im vergangenen Jahr um die 37 Millionen Euro damit umgesetzt wurden, Kinder aus Äthiopien zu adoptieren.

"Immer, wenn für die Vermittlung von Kindern Geld fließt und einige Akteure daran verdienen, ist das Kinderhandel", sagt Roelie Post. Die niederländische Menschenrechtsaktivistin scheut sich nicht vor der Wucht dieses Wortes, um das internationale Adoptionssystem zu beschreiben.

Post war von 1999 bis 2005 in der Europäischen Kommission in Brüssel zuständig für den Schutz von Kinderrechten in Rumänien. Damals lernte sie, worauf das System aufgebaut ist. "Politischer Druck, Lügen, Korruption, falsche Identitäten." Sie arbeitet im Keller ihres Wohnhauses, nur zwei Straßenecken entfernt von den gläsernen Klötzen der EU-Kommission. Von hier aus bekämpft sie mit ihrer Organisation Against Childtrafficking das System zwischenstaatlicher Adoptionen. Als sie noch für die EU arbeitete, hat sie mit anderen dafür gesorgt, dass Rumänien die Adoption von Kindern ins Ausland komplett stoppte - wegen der kriminellen Strukturen. Nun erlebt sie, wie in Äthiopien ein neuer Markt entsteht. Ihr Hauptargument: "Der Handel mit Kindern ist gesteuert von der Nachfrage des Westens." Weil es in Deutschland, Frankreich oder den USA nicht genug Kinder gebe, die adoptiert werden können, schauen sich potentielle Eltern in anderen Teilen der Welt um. Auch Claudia Renner* hat das getan.

Eine deutsche Frau will ein "schönes Baby"

Es war im Winter 2005, da spürte die Bibliothekarin diese seltsame Angst. Die Frau mit den kurzen, schwarzen Haaren ging damals auf die vierzig zu, sie hatte keinen Mann, etwas fehlte in ihrem Leben. "Ich wünschte mir so sehr ein Kind und bekam irgendwie Torschlusspanik", sagt sie. Aber als Singlefrau hätte sie in Deutschland nicht adoptieren dürfen. Schon immer hatte sie einen "Hang zum Fremden", sagt sie, zu Afrika. Und sie wünschte sich ein "schönes Baby". Sie wurde Mitglied in Adoptionsforen im Internet und besuchte Seminare. Als Renner im Mai 2006 schließlich einen Vertrag mit der Adoptionsagentur Eltern für Afrika unterzeichnete, verwandelte sich ihre Angst vor der Kinderlosigkeit in pures Glück. Sie fühlte sich leicht und frei, bereitete sich wie im Rausch auf ihr neues Leben mit einem Kind vor. Unter der Woche arbeitete sie in der Bibliothek, am Wochenende setzte sie sich nachts in das Empfangshäuschen einer Klinik, um die Adoptionskosten bezahlen zu können. Ihre Gedanken drifteten zu ihrem zukünftigen Wunschkind. Sie machte mit ihm schon Ausflüge in den Zoo, fuhr mit ihm Rad. "Ein ganz klarer Fall von adoptionsschwanger", sagt sie.

Und dann kam er schließlich: ihr Sohn. Zumindest auf dem Papier, dem "Kindervorschlag" der Adoptionsagentur. Ein schwarzer Junge mit lila Trainingshose stand vor einem Trampolin, auf einem anderen Bild hat er eine gelbe Kapuze mit Ohren auf dem Kopf. Edo: 18 Kilo schwer, 97 Zentimeter groß, eine Narbe am rechten Bein. Lieblingsspeise: Reis und das gesäuerte Fladenbrot Injera. Laut den Unterlagen ist er 2005 geboren worden, seine Mutter sei ein Jahr später an Gelbfieber gestorben. Weil die neue Frau des Vaters das Kind nicht großziehen wolle und die Familie kaum genug Geld habe zum Überleben, werde er zur Adoption freigegeben, hieß es in den Papieren. Sie musste nur ins Flugzeug steigen, um ihren Kleinen persönlich zu treffen. Doch so weit kam es nicht.

Renner lernte einen Mann kennen. Das hätte perfekt zur Familienplanung gepasst, aber nicht zur Bürokratie. Sie hatte sich als alleinerziehende Mutter beworben. Das Verfahren wurde gestoppt. Renner war geschockt. Wo würde ihr Sohn hinkommen? Was passiert mit ihm?

Über Internetforen versuchte Claudia Renner, neue Details über Edos Verbleib herauszubekommen. Es sind hauptsächlich diese Onlinezirkel, die die Adoptionsgemeinschaft zusammenhalten. Nach außen sind sie geradezu hermetisch abgeriegelt. Wer nicht seine Personalausweisnummer oder eine nachverfolgbare Festnetznummer einreicht, kommt nicht hinein. Und wer nicht wenigstens ein Informationsseminar bei einer Adoptionsagentur besucht hat, scheint verdächtig. Die Sorge, jemand könnte nach all den Mühen ihre Pläne durchkreuzen, macht die Mitglieder ängstlich. Außerdem werden Auslandsadoptionen ohnehin misstrauisch beäugt. Nicht zuletzt, weil 2005 eine Agentur nach Betrugsvorwürfen geschlossen wurde.

Bei Gesprächen mit Adoptiveltern, Adoptierten, Adoptionsvereinen, Adoptionswilligen sowie den zuständigen Vermittlungsstellen und Behörden fällt auf, wie zurückhaltend die Szene gegenüber der Öffentlichkeit ist. Wenige wollen überhaupt reden, so gut wie keiner mit Klarnamen in der Zeitung stehen. Es herrscht ein Gebot des Schweigens, dass kaum einer bricht. In Äthiopien kann es gefährlich werden, offen Nachforschungen über das Adoptionssystem anzustellen. Edos Reise ließ sich vollständig nur mit verdeckten Recherchen in Ministerien und Waisenhäusern rekonstruieren.

Das Waisenhaus Gelgela, in dem Edo einige Monate verbrachte, liegt mitten in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba. Über der Dreimillionenstadt hängt eine Rußglocke, auf den Straßen drängeln sich blau-weiße Minibusse durch den Verkehr, auf den Gehwegen kauen die Verkäufer Kath. Kein Schild, kein Name, keine Klingel weist darauf hin, was sich hinter dem drei Meter hohen Tor verbirgt. Nur das Geschrei spielender Kinder überwindet den Stacheldraht auf der Mauer, die das Haus nach außen abschirmt. Im Hof steht ein Eisenkarussell mit acht Sitzen. Kleine Hosen hängen auf den Wäscheleinen über einer winzigen Grünfläche. Fotografieren ist hier streng verboten. In den verwinkelten Räumen im Inneren sitzen die Mitarbeiter von Gelgela in stickigen Büros. Sie machen ein besorgtes Gesicht, wenn man sie darauf anspricht, dass Elternteile ihre Kinder zur Adoption freigeben. "Natürlich ist das psychologisch problematisch - für Eltern und Kinder", sagt einer. "Es wäre besser für die Kinder, in ihrem eigenen kulturellen Umfeld zu bleiben."

Eine Augsburger Agentur will mehr als 12.000 Euro

Aber so sehr die Heimangestellten das auch wollen - am Ende fehlt es an Geld. Der äthiopische Staat kann es sich nicht leisten, Waisenhäuser finanziell zu unterstützen. Deswegen sind die Heime auf ausländische Spender angewiesen. Was diese Verquickung bedeutet, ist den europäischen Adoptionsvermittlungsstellen in Addis Abeba bewusst. In ihrem vertraulichen Report vom März 2008 heißt es: "Je mehr Geld in die Waisenhäuser fließt, umso mehr Kinder werden für Adoptionen freigegeben. Das befeuert den Wettbewerb der Organisationen bei der Kindersuche. Und wir alle wissen, dass Geld in diesem Prozess eine Rolle spielt - bares Geld, teure Geschenke, Renovierungsarbeiten in den Waisenhäusern."

Die Schlüsselstelle in Sachen Geldverteilung sind die Adoptionsagenturen. Sie selbst nennen sich Vermittlungsstellen. Das klingt weniger nach Geld, nicht nach Handel. Am stärksten vertreten ist der Verein Eltern für Afrika, über den auch Edo nach Deutschland geholt wurde. Das Büro des Vereins liegt im zweiten Stock eines stattlichen Gründerzeithauses im Zentrum von Augsburg. Zwölf Angestellte arbeiten hier. An den Wänden hängen die Fotos der Kinder, die der Verein nach Deutschland vermittelt hat. Lachende Gesichter. Hundertvierzig sind es seit der Gründung 2006. Raimund Marz-Deibele empfängt den Besucher in braunem Cordjackett. Er trägt eine schwarz gerahmte Brille, grauen Bart und kurze Haare. Seine Hautfarbe zeugt von häufigen Afrikaaufenthalten.

Vor zehn Jahren war er das erste Mal in Addis Abeba. Er baute ein soziales Projekt für Straßenmütter auf. Bald merkte er, dass man manchen vor Ort nicht weiterhelfen konnte. "Also haben wir als letztes Mittel die internationale Adoption eingeführt."

Mehr als zwölftausend Euro sollte Claudia Renner bei ihm investieren, um Edo aufnehmen zu können. Die nötigen Dokumente zusammenstellen zu lassen und die Adoption vorzubereiten kostet einen Bewerber ihren Unterlagen zufolge bereits über fünftausend Euro.

Der Rest fließt einerseits in die aufwändige Kommunikation zwischen Jugendämtern, Ausländeramt, Gericht, Ordnungsamt und dem äthiopischen Sozialministerium. Etwa genauso viel, also rund 3.500 Euro, geht direkt nach Äthiopien. Damit unterhalten die Agenturen vor Ort nicht nur gute Beziehungen zu den Waisenhäusern, sondern bauen auch eigene Unterkünfte, so genannte Übergangsheime. Dort kommen zur Adoption freigegebene Kinder hin, um sie auf ihre neue Heimat vorzubereiten. Der Standard ist wesentlich höher als in Waisenhäusern wie Gelgela.

In Edos Übergangsheim am Rand der Stadt blühen Sträucher im Hof, auf einer Grasfläche liegt Spielzeug. Es gibt eine Küche, in der für die Kinder drei Mal am Tag gekocht wird. Gegenüber sind eine Arztpraxis und eine eigene Apotheke. Mehr als dreißig Kindermädchen kümmern sich um die Babys und Kleinkinder. Wer es bis in ein solches Übergangsheim geschafft hat, ist meist schon so gut wie im Westen. Das wissen die Kinder und versuchen, sich von ihrer besten Seite zu zeigen, wenn weiße Besucher kommen: Schulklassen stehen auf und singen ein deutsches Kinderlied, manche rufen "Mama" oder greifen gleich nach der Hand des Gastes. Es könnte ja sein, dass die sie in ein neues Leben führt. Die Kinder haben verstanden, dass das ein Markt ist. Sie sind das Angebot.

Ein sieben Jahre alter, körperlich und geistig behinderter Junge kommt auf den Heimleiter Awgichew Ergette zugelaufen, streckt ihm seine Hände entgegen. "Er ist schon einige Jahre hier", sagt Ergette, "aber wir finden einfach keine Adoptivfamilie für ihn." Wer HIV positiv, blind, behindert oder über fünf Jahre alt ist, hat so gut wie keine Chance mehr, adoptiert zu werden. Fast alle westlichen Familien geben in ihren Fragebögen an, dass ihr Wunschkind gesund und jung sein soll.

Aber da gibt es ein Problem: Von den laut Kinderhilfswerk Unicef fünf Millionen Waisen in Äthiopien entsprechen zu wenige den Wünschen. Wenn es aber nicht genug gesunde verwaiste Säuglinge gibt - warum steigen dann die Adoptionszahlen?

"Ich habe gelogen", sagt Abadi Kebede, der Vater, und seine Stimme klingt, als versacke sie im Lehmboden. Auf den Papieren der Behörden, vor dem Richter und den neuen Eltern hat er seine Ehefrau für tot erklärt - jene junge Frau, die jetzt im Dunkel der Hütte neben ihm sitzt und schweigt. Wäre sie auf dem Papier noch am Leben, dann wäre Edo keine Halbwaise eines mittellosen Vaters, dann hätte er gar nicht adoptiert werden dürfen. Kebede hatte getan, was er bei seinen Nachbarn gesehen hatte. Viele in seinem Dorf haben ein Kind zur Adoption freigegeben. Sie alle hatten die Hoffnung, dass das einen Weg in ein besseres Leben eröffnen könnte.

Dann gestehen sie ein: Der Junge ist keine Waise

In Augsburg reagiert Agenturchef Marz-Deibele geschockt, wenn man ihn mit dem Fall Edo konfrontiert. "Das kann eigentlich nicht sein." Sofort veranlasst er Nachforschungen, schickt Mitarbeiter vor Ort los, spricht mit Behörden. Wenige Tage später gesteht er ein: "Edo ist kein Waisenkind." Marz-Deibele weiß, dass es für ihn gefährlich werden könnte. Dass die Glaubwürdigkeit seiner Agentur auf dem Spiel steht, dass Schweigen bei der Öffentlichkeit nicht gut ankommt. "Ich habe einen zweiten Rechercheur eingestellt und die Zusammenarbeit mit dem Waisenhaus Gelgela abgebrochen", sagt er. Er folgt damit den Auflagen der zuständigen Adoptionsbehörde in Bayern. Das Geschäft kann weiter wachsen. Dass das System das Problem ist, sieht er nicht.

Dabei ist Edo kein Einzelfall. Die Organisation Against Childtrafficking hat am Beispiel der niederländischen Adoptionsagentur Wereldkinderen nachgewiesen, dass es sich bei drei von 25 untersuchten Vermittlungen gar nicht um Waisen handelte. Zwischen Österreich und Äthiopien sind die Adoptionsvermittlungen sogar ganz zum Erliegen gekommen, nachdem ein Fall von gefälschten Papieren bekannt geworden ist. Und kürzlich hat die US-Botschaft in Addis Abeba angekündigt, Adoptionen des Waisenhauses Gelgela genau zu untersuchen, neun weiteren Waisenhäusern hat der äthiopische Staat die Lizenz entzogen. Auf den Fall Edo reagiert die zuständige deutsche Behörde noch gelassen. Grundsätzliche Konsequenzen will man bei der Zentralen Adoptionsstelle Bayerns vorerst nicht ziehen. Und rückgängig machen will Edos Adoption auch niemand.

Abadi Kebede bekommt jetzt gelegentlich Post aus Edos neuem Leben. Die Familie in Deutschland will zeigen, wie gut es ihm geht.

Er ist mittlerweile fünf und hat einen Bruder mit blondem Pagenschnitt, einen Vater mit verschmitzten Lachfalten um die Augen und eine Mutter mit schwarzem Haar. Auf den Straßen einer süddeutschen Großstadt lernt er Fahrrad fahren. Familienfotos zeigen alle, wie sie aneinandergeschmiegt lachen. Der Vater sagt am Telefon, dass er nicht mit der Presse reden möchte. Er will sein Kind schützen. Vor der Lüge und der Verzweiflung. Vor den falschen Hoffnungen.

Vor Edos eigener Geschichte.

 

* Namen geändert