Trans Belgrad USA lesbisch Geschlechtsumwandlung

Bleibt alles anders

Die Amerikanerin Rose Franko liebte ihr Leben lang Frauen. Das änderte sich erst, als ihre Partnerin zu einem Mann wurde. Die Geschichte einer Liebe, die in keine Schublade passt.
Süddeutsche Zeitung Magazin

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Penisse waren Rose Franko ihr ganzes Leben lang egal. Seltsame Organe zwischen Männerbeinen waren das für sie, mehr nicht. Die Amerikanerin ist lesbisch, seit sie denken kann. Noch nie hatte sie einen Mann - nicht zum Leben, nicht zum Lieben, und schon gar nicht zum Sex. Und nun, mit Mitte siebzig, sitzt sie plötzlich in einer Stadtwohnung in Belgrad, krallt ihre rosarot lackierten Fingernägel nervös in die Lehnen ihres Sessels, und kann an nichts anderes denken als einen Penis. Er gehört der Liebe ihres Lebens. Aber erst seit einigen Tagen.

"Sie hat gesagt, dass sie als Mann beerdigt werden will", erzählt Rose. "Falls irgendetwas schiefgehen sollte." Im Badezimmer der muffigen Wohnung steht Arleen, die Frau, mit der sie seit dreißig Jahren zusammen ist. Das heißt, eigentlich steht dort Arlen, der Mann mit dem sie für den Rest ihres Lebens zusammenbleiben will. Hinter der verschlossenen Badezimmertür überprüft ein serbischer Arzt die Wunden Arlens. Das Paar hat vor einigen Tagen die Reise von Florida nach Belgrad angetreten, 9000 Kilometer weit, damit sich Arlen endlich der riskanten Operation unterziehen kann, von der er so lang träumt. In den USA hat er bereits seine Brüste verkleinern lassen, die inneren weiblichen Organe entfernen, sich Hormone verschreiben lassen. Es fehlte nur noch dieses letzte, kleine Stück Männlichkeit untenrum. Den Traum hat sich Arlen in Belgrad erfüllt.

Rose kümmert sich schon seit einigen Tagen fürsorglich um ihren Freund und sein neues Organ: waschen, desinfizieren, Katheter wechseln. Wie sich das für sie anfühlt, wo sie sich doch nie für Penisse interessiert hat? Für sie als gelernte Krankenschwester sei das Routine, sagt sie. Und mehr will sie zu dem neuen Ding an ihrem Liebsten auch nicht sagen. Was zähle, sei der Mensch drumherum.

Als sich die Badezimmertür öffnet, hört man bereits AJs raues Lachen. Das Testosteron hat seine Stimme verändert. Sein Gesicht ist jetzt viel kantiger als früher, ihm wachsen dichte Haare auf der Brust, er trägt einen grauen Bart. Seine kräftigeren Hände schiebt er mit lässiger Geste in die Taschen der hellen Herrenhose und sieht lachend in den Spiegel über dem Waschbecken. Er mag, was er sieht. Und Rose? Kann sie nun einen Mann lieben, wo sie sich doch nur für Frauen interessiert? Rose antwortet nicht, sondern legt den Kopf an die Brust ihres Lebensgefährten und lächelt. Seine Brusthaare kitzeln ihre Wange. Sie seufzt. "Ich mag das Gefühl", sagt sie. Arlen grinst und erzählt, dass er am Anfang Angst hatte, sie ihr zu zeigen. Doch Rose hat bemerkt, dass sie vieles mag an Männerkörpern. "Einen schönen Mann gucke ich mir lieber an als eine hässliche Frau", sagt sie. Im gemeinsamen Apartment am Strand von Florida verbringen die beiden fast jeden Tag am Pool. Es ist eine körperliche Gesellschaft, in der man auf Schönheit bedacht ist. Arlen, der sich jahrzehntelang als Mann in einem falschen Körper fühlte, machte jede Alterungserscheinung zu schaffen."Alles hängt und ist verrunzelt, ich konnte mich gar nicht mehr selbst angucken", sagt er. Heute sieht er für sein Alter sehr muskulös aus. Man sieht ihm sein Training an.

Im Schlafzimmer der Belgrader Wohnung stehen die Reisekoffer der beiden. Zwei Überseekoffer für Rose, zwei kleine Trollys für Arlen. Sie wollen sich umziehen für ein Essen mit den serbischen Ärzten, um die gelungene Operation zu feiern. Rose zieht drei Jacken aus dem Klamottenstapel und steht unschlüssig davor. Arlen sieht ihr zu. "Sie nimmt immer zu viel mit", stichelt er, ganz wie ein Klischee-Ehemann, ein Klischee-Hetero-Ehemann, "und dann kauft sie sich trotzdem noch was Neues nach." Rose spielt kurz die empörte Hetero-Ehefrau, dann gehen die beiden Arm in Arm auf die Straßen Belgrads.

Obwohl Geschlechtsoperationen in Belgrad vergleichsweise günstig sind und viele Europäer und Amerikaner den Eingriff hier vornehmen lassen, sind Homo- und Transsexualität in Serbien heute noch ein Tabu. Auf den Straßen von Belgrad gibt es keine sich küssenden lesbischen Paare, die Bars für Homosexuelle sind in keiner Karte eingezeichnet, und die Schwulenparade endete 2010 nach einem Überfall durch Hooligans mit vielen Verletzten. Seitdem ist die Parade verboten. Unvorstellbar für zwei Lesben, Hand in Hand durch die Straßen zu gehen. "Aber jetzt ist das ja kein Problem mehr", sagt Rose und hakt sich damenhaft unter. "Wir sind jetzt normal."

So normal, dass sie nun in den Lesbenbars in den USA schief angeschaut werden. Man dreht sich um nach ihnen und die Frage steht im Raum: Was habt ihr hier zu suchen? Einmal musste AJ sogar seinen Ausweis herausziehen, um einer lesbischen Stammtischrunde zu beweisen, dass er als Frau geboren wurde. Rose mag das. Ihr war das Etikett "Lesbe" immer schon zuwider. Wenn sie das Wort sagt, macht sie eine Handbewegung, als wolle sie es vertreiben wie eine Stubenfliege. "Ich mag den Ausdruck nicht und ich mag diese ganze Welt nicht", sagt sie.

Rose hat als 18-jährige Puerto Ricanerin bei der Navy angeheuert, erst bei der Armee hat sie Englisch gelernt, und sich dann zum Offizier hochgearbeitet. Sie hat Truppen in Lateinamerika befehligt und schließlich ist sie sogar im Pentagon gelandet. Dass sie Frauen liebt, hat sie jahrzehntelang verheimlicht. "Ich wäre unehrenhaft entlassen worden", erzählt sie. "Einmal Marine, immer Marine." Zu Hause in ihrer Wohnung hat sie eine ganze Wand voller Fotos. Sie zeigen eine stolze junge Frau in weißer Garde-Uniform mit Orden am Revers, in Grün mit einem Sportlerpokal in der Hand oder in Blau mit weißen Handschuhen und Hut.

Als Rose nach 23 Jahren bei der Marine in Rente geht, kehrt sie zurück in ihre Heimat Puerto Rico. Und sie trifft dort Arleen, die sie schon aus frühester Kindheit kennt: Arleen und Rose sind Cousinen. "Meine damalige Partnerin war auch mit AJ befreundet. Wir haben uns oft gesehen", erzählt Rose. In den Achtzigerjahren stirbt ihre langjährige Partnerin überraschend an einem Herzinfarkt. "Und dann war AJ einfach da", sagt sie. Arleen hilft ihr mit der Beerdigung und mit ihrer Trauer.

Irgendwann verlieben sich die beiden. "Es war an einem Abend, als ich mich verabschieden wollte", sagt AJ. "Statt ihr wie sonst einen Abschiedskuss auf die Wange zu geben, bin ich abgerutscht und auf ihren Lippen gelandet. Ich wollte mich entschuldigen und war ganz verlegen, aber Rose sagte nur: 'Das ist völlig okay!'" Von da an gab es so lange weiter Abschiedsküsse, bis es keine Abschiede mehr gab.

Zwei Monate später standen die beiden in weißen Hosenanzügen in einer Gay Church in New York und ließen sich zu Frau und Frau erklären. Damals war das noch nicht offiziell erlaubt, weswegen die Ehe ungültig war. Aber das machte nichts - AJ verstand sich selbst ja sowieso nie als homosexuell, sondern als Mann in einem Frauenkörper. Vor einem Jahr haben die beiden noch einmal geheiratet, diesmal als Mann und Frau.

Im Restaurant in Belgrads Villenviertel hilft Arlen seiner Frau aus dem Mantel - und ist dann plötzlich verschwunden. Rose sieht sich verunsichert um. Er steht nicht bei den Ärzten aus der Privatklinik und auch nicht am Tresen bei den Kellnern. Sie sucht ihn, geht zur Toilette, aber niemand ist dort. Als Arlen endlich auftaucht, fragt sie ihn: "Wo warst du denn, um Himmels willen?"
"Mir die Hände waschen", antwortet AJ.
"Aber da war ich doch gucken."
"Auf dem Herrenklo?"
Es ist schwierig, sich daran zu gewöhnen, dass der Partner plötzlich die Männertoilette aufsucht - nach so vielen Jahren. Die beiden brechen in schallendes Gelächter aus. "Sie ist das Beste, dass mir je passiert ist", sagt Rose. "Er ist das Beste", korrigiert AJ. "Er!"

 

 

Reich an Armut

Leipzig ist laut Statistik die ärmste Stadt Deutschlands. Was bedeutet es, wenn Mangel zur Normalität wird - vor allem für jene, die nicht arm sind?

DIE ZEIT 

Das Wort war wie ein Schock. Es klang nach verwahrlosten Straßen und leeren Bierdosen, nach Hoffnungslosigkeit und Verfall. Von Leipzig als »Armutshauptstadt« schrieb Ende Juni die überregionale Presse. Das Statistische Bundesamt hatte herausgefunden, dass inLeipzig – relativ gesehen – mehr Menschen von Armut bedroht sind als in irgendeiner anderen deutschen Stadt: 27 Prozent; der bundesweite Schnitt liegt bei 14 Prozent. Etwa zur selben Zeit legte das Sozialamt der Stadt seinen Lebenslagenreport 2009 vor: Danach gelten 18,9 Prozent der Bevölkerung als arm.

Nun sind Armutsquoten immer problematisch, weil sich das Einkommen niemals ganz genau erfassen lässt. Und vergleichbar sind die Zahlen nur schwer, weil jede Stadt andere Daten zugrunde legt. Eine Erkenntnis vermitteln die Statistiken dennoch: nämlich dass Armut in Leipzig – nach deutschen Maßstäben – dramatische Ausmaße angenommen hat. Dass sie dazugehört und so schnell nicht wieder verschwindet. Was bedeutet das fürLeipzig? Wie tickt eine Stadt, in der Armut längst nicht mehr nur die Ränder der Gesellschaft berührt? Und welchen Effekt hat sie auf jene, die nicht arm sind?

Die Suche nach Antworten führt zu Hausbesitzern und Stadtentwicklern, zu Studenten wie auch zum Chefregisseur der Leipziger Oper und dem Intendanten des MDR. Sie alle sind nicht arm, aber sie müssen sich damit auseinandersetzen, dass es beträchtliche Armut in Leipzig gibt. Es beeinflusst ihr Privatleben oder ihre Arbeit. Und trotzdem antworten viele, wenn man sie fragt, ob Leipzig eine Stadt des Prekariats sei, mit »Nein«. Woran liegt das? Ist die Armut in Leipzig unsichtbar? Oder gilt es einfach, die gängigen Vorstellungen über arme Menschen zu hinterfragen?

Die Unterschiede wachsen – bei Bildung, Einkommen, Teilhabe

Das Mädchen mit den Schwefelhölzern aus Andersens Märchen, das manchem in den Träumen der Kindheit begegnet ist, existiert nicht mehr. Armut sieht heute anders aus. Laut einer EU-weiten Definition ist davon bedroht, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Monatseinkommens zur Verfügung hat. Die Summe beläuft sich für einen Einpersonenhaushalt in Deutschland momentan auf 787 Euro. Die Zahlen für Leipzigsind drastisch niedriger: Bei einem durchschnittlichen Nettohaushaltseinkommen von gerade einmal 1067 Euro liegt die Grenze hier bei 640 Euro. Ein Student kann von 640 Euro gut leben – zumal in Leipzig. Studierende gibt es hier sehr viele. Wer aber meint, sie drückten die Statistik, liegt falsch. Denn auch andere Kommunen wie Jena oder Münster mit einem noch größeren Anteil an Studenten stehen weit besser da. Etwa 1000 Euro für eine drei- oder vierköpfige Familie aber sind nicht viel.

Läuft man durch die Innenstadt und ihre Passagen, schlendert durch das grüne Schleußig oder lässt sich in den Cafés der Südvorstadt nieder, dann scheint die Armut nicht nur weit weg. Laut dem Sozialbericht 2009 ist sie es auch. Wurde Leipzig lange als relativ sozial homogene Stadt wahrgenommen, so driften die Stadtteile mittlerweile sozioökonomisch auseinander. Die Unterschiede wachsen – bei Bildung, Einkommen, Teilhabe.

Um zu verstehen, welche Effekte Armut auslösen kann, muss man zunächst den prosperierenden Stadtvierteln den Rücken kehren und dorthin gehen, wo die Armut am größten ist. Nach Osten zum Beispiel. Neben Grünau und einigen anderen Stadtteilen im Westen ist da die soziale Struktur besonders problematisch. Wer sich dort als Nicht-Armer niedergelassen hat, der weiß, welche Auswirkungen die Not haben kann.

Michael Behling, ein privater Wirtschaftsgutachter, ist fast jede Woche im Leipziger Osten. Er sitzt in einer ehemaligen Bankfiliale, deren Tresore noch da sind – leer. Unter den Stuckdecken stehen graue Bürotische, Aufstellwände mit Bauzeichnungen des Stadtteils und Informationstafeln über Mikrojobs. Ein »kleines Wirtschaftsministerium«, so nennt er die amtliche Informationsstelle an der Eisenbahnstraße, kurz IC-E. Hier kommen alle her, die am wirtschaftlichen Leben in der Gegend teilnehmen wollen; als Arbeiter, Unternehmer, Gründer, Freiwillige, Lernende. Es geht dort um Stadtentwicklung auf niedrigstschwelligem Niveau, aber auch um die Frage, was Armut für ein Viertel bedeutet.

»Die Armut im Osten legt sich wie Mehltau über alles«

In den Läden nebenan sind vietnamesische Gemüsehändler, türkische Bäcker, Nagelstudios und Dönerimbisse eingezogen. Je weiter man gen Osten fährt, umso mehr Fenster glotzen wie stumpf gewordene Augen aus den Häusern. Mit blauen Buchstaben steht noch »Fischladen« über einem längst überflüssigen Schaufenster. In einer sozial schwachen Gegend wie dem Leipziger Osten hoffen viele der etwa 800 kleinen und kleinsten Unternehmen, mit staatlichem Geld zu überleben. »Sie aber nur vor dem Sterben zu bewahren – dafür sind Fördergelder nicht da«, sagt Gutachter Behling. Stattdessen will er mit den Subventionen dabei helfen, hier Unternehmen langfristig anzusiedeln, die dem Stadtteil nützen. Und dabei kommt er nicht umhin, auf die ökonomische Realität im Viertel zu reagieren. »Statt Parmaschinken kann man hier nur Landschinken anbieten«, sagt er. »Einen Fischladen würde ich hier auch nicht unterstützen.« Fisch sei zum Edelprodukt geworden, und weil er schnell verderbe, kämen hohe Aufschläge auf die Preise. »Wenn Sie den haben wollen, müssen Sie in den Keller vom Kaufhof.«

Dort, in Leipzigs Innenstadt, sieht das Leben anders aus. Es gibt Feinkosttheken und Designerboutiquen, Pralinenläden und Juweliere. 40 Prozent aller Verkaufsflächen liegen auf dem kleinen Areal zwischen Hauptbahnhof und Markt. Im Vergleich zu ähnlich großen West-Städten wird in der Leipziger City dennoch relativ wenig Geld umgesetzt. Es dominiert das Niedrigpreissegment. So konstatiert ein Bericht aus dem Rathaus einen »Trading-Down-Effekt« in Teilen der Innenstadt, »in der Billiganbieter qualitativ hochwertige Geschäfte abgelöst haben«.

Die Zahl der Discounter in der Stadt hat sich in den vergangenen zehn Jahren um 53 Prozent erhöht. Die meisten Leipziger geben ihr Geld fast ausschließlich für Lebensmittel aus. Möbel zum Beispiel erwerben sie weit weniger häufig als der Rest der Bevölkerung. Die edlen Läden der Innenstadt sind vor allem für die Gäste da, nicht die Einwohner. Auch dort wirkt also die Armut nach. Ohne eine insgesamt wohlhabende Bevölkerung kommen auch jene in Bedrängnis, von denen die Armut auf den ersten Blick weit entfernt scheint. Zum Beispiel der Chefregisseur der Leipziger Oper, Peter Konwitschny.

Er gehört zu den erfolgreichsten Opernregisseuren Deutschlands, inszeniert überall in Europa, garantiert für volle Häuser. Die Frage, warum die Zuschauerzahlen in Leipzig so erschreckend niedrig seien, beschäftige ihn, seit er vor zwei Jahren hierherkam, erzählt er. Und es klingt, als sei er hier mit einer Realität konfrontiert, mit der er nicht gerechnet hatte, als er aus Hamburg kam, wo er zuvor gearbeitet hatte: »In Hamburg gibt es einfach sehr viel mehr Menschen, die die finanzielle Möglichkeit haben, in die Oper zu gehen.«

In der Leipziger Oper wurde nach der Wende schon einmal die Anzahl der Sitze verringert. Ursprünglich war einmal Platz für 1700 Zuschauer, heute passen noch 1200 in den großen Saal. Aber selbst das scheint noch zu viel zu sein. Die schlechten Auslastungszahlen jedenfalls sprechen sehr dafür. Für einen Sitz im Parkett zahlt man zwischen 24 und 54 Euro. An einem Tag im Monat werden alle Karten zu einem ermäßigten Tarif verkauft. Dann ist die Oper immer voll. Egal, was auf dem Spielplan steht. Völlig zu Recht treibt Konwitschny die Frage um: Wie kommen wir nur an die ran, für die Opern eigentlich geschrieben sind, die einfachen Menschen?

Darauf könnte Udo Reiter, Intendant des Mitteldeutschen Rundfunks, Antwort geben. Sein Sender gehört nach den Einschaltquoten zu den erfolgreichsten dritten Programmen. Und trotzdem sagt er über seinen MDR, der allein in Leipzig rund 1300 Mitarbeiter fest beschäftigt: »Wir sind verarmt.« In den letzten Jahren hat sich die Zahl derer, die aus sozialen Gründen von Rundfunkgebühren befreit wurden, ständig erhöht. Mittlerweile sind es 12,6 Prozent; in Bayern oder Baden-Württemberg sind es nur halb so viele. Reiter erzählt, dass die zahlungskräftigen Zuschauer, die hier aus der Statistik verschwinden, wenig später in denen der westlichen Nachbarn auftauchen. Als Reichtum, der abgewandert ist.

Nun muss der MDR kräftig sparen. Statt wie bisher drei werden beispielsweise künftig nur noch zwei Tatorte im Jahr produziert. Das setzt eine Kettenreaktion in Gang. Je weniger der MDR ausgeben kann, desto weniger Geld fließt in ortsansässige Produktionsfirmen. »Die Armut im Osten legt sich wie Mehltau über alles«, sagt der Intendant. Es klingt ein bisschen resigniert.

Warum aber sind die Menschen in Leipzig eigentlich ärmer als die in anderen Städten? Zu DDR-Zeiten war gut ein Fünftel der Einwohner in der Industrie beschäftigt. Von diesen Arbeitsplätzen sind fast gar keine übrig geblieben. Nach der Wende ist es der Stadt nicht gelungen, ihre Vision einer Handels- und Dienstleistungsmetropole Wirklichkeit werden zu lassen. »Das scheiterte an der Vormachtstellung etablierter Standorte in Westdeutschland«, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Joachim Ragnitz vom ifo Institut Dresden. Arbeitslosenzahlen um 14 Prozent, die selbst im sächsischen Vergleich hoch sind, waren seither die Folge. Ortsansässige Unternehmen wie Amazon oder DHL arbeiten auf einem relativ geringen Lohnniveau. Auch BMW oder Porsche haben, anders als erwartet, nur wenige Neuansiedlungen nach sich gezogen. Kurzum: Es gibt in Leipzigeinfach sehr wenige gut bezahlte Jobs.

»Die Menschen hier zeigen eine Initiative, wie ich sie woanders nie gesehen habe«

Trotzdem entscheiden sich einige Menschen ganz bewusst dafür, hier zu bleiben. Oder sogar in den Leipziger Osten zu ziehen. Paula Hofmann ist eine von ihnen. Die Studentin hat mit 13 Freunden ein Haus gesucht, das sie selbst umbauen und vom Dachgeschoss bis zum Keller nutzen können. Im Bülowviertel, einem nur aus wenigen Straßen bestehenden, wildromantischen Gründerzeitquartier an der Eisenbahnstraße, lebt sie jetzt. »Dieser Stadtteil ist mir richtig ans Herz gewachsen«, sagt sie. »Die Menschen hier zeigen eine Initiative, wie ich sie woanders so nie gesehen habe.« Oder die woanders nicht so stark auffallen würde.

In der Nachbarschaft stehen »Wächterhäuser«, von Künstlern zur kreativen Zwischennutzung übernommene Gebäude, die lange leer standen. Es gibt eine Volksküche, Künstlerateliers. »Natürlich«, sagt Hofmann, »ist die Armut hier offensichtlich.« Man kann sie nicht ausblenden, ihr nicht entfliehen. »Aber dadurch ist auch alles hier viel direkter und ehrlicher. Ich habe das Gefühl, es gibt hier nicht solche Berührungsängste zwischen den Menschen.«

Das merkt sie besonders an ihrem neuen Arbeitsplatz, dem »Quartiersladen Bülowviertel«. In einem Eckhaus an der Eisenbahnstraße haben private Vermieter einen Nachbarschaftstreff eingerichtet, wo Wohnungssuchende und -bietende zusammenfinden können. Es ist der verzweifelte Versuch von Wohnungseigentümern, auf die soziale und finanzielle Realität in Leipzig zu reagieren.

In der Stadt gehören fast zwei Drittel aller Wohnungen Privatleuten. Jeder Zweite von ihnen ist, in unterschiedlichem Ausmaß, von Leerstand betroffen. Beides zusammengenommen – Sozialstruktur und Leerstand – ergibt eine »ruinöse Kombination«, sagt Eckardt Nowak vom Eigentümerverband Haus und Grund. Weil viele Vermieter Angst davor haben, ihre in den neunziger Jahren topsanierten Wohnungen leer stehen zu lassen, vermieten sie diese an sozial schwache Familien. Diese können aber nicht mehr als den vom Amt erlaubten Quadratmeterpreis von 3,85 Euro bezahlen, was noch nicht einmal die Kosten der ersten Sanierung wieder einbringt und weitere Maßnahmen ausschließt. »Wir nähern uns DDR-Verhältnissen wieder an«, sagt Nowak. »Die Häuser verfallen, werden zwangsversteigert, oder der Vermieter reiht sich in die Klientel seiner Mieter ein.« Es sei denn, man reagiert rechtzeitig.

Eine wichtige Klientel für topsanierte Wohnungen sind: Hartz-IV-Empfänger

Katrin Kahraman besitzt drei Häuser im Leipziger Osten. Mit ihrer Tochter auf dem Rücksitz fährt sie durchs Quartier, biegt in eine gepflasterte Seitenstraße ein und passiert ihr hochwertig saniertes Gründerzeithaus mit leuchtend gelber Fassade und riesigen Balkonen. »Die Wohnungen in dem Haus sind zu groß und der Standard zu hoch, um sie vom Amt bezahlen lassen zu können«, sagt sie. Und das ist problematisch, weil in der Gegend Hartz-IV-Empfänger eine wichtige Mieterklientel sind. Das Haus war Kahramans liebstes Investitionsobjekt, sie selbst lebte dort, ihr Schwager bezog mit der ganzen Familie eine Etage. Für die anderen Wohnungen Mieter zu finden ist jedes Mal aufwendig. Damit sich das ändert, hegt Kahraman mit anderen engagierten Privateigentümern den kühnen Plan, das Bülowviertel wieder attraktiv zu machen. Es sollen ein Spielplatz und ein Streetball-Feld in Brachen hineingebaut werden, Nachbarschaftsfeste stattfinden und Schandflecken weichen. An den überwucherten Fassaden leer stehender Häuser hängen grüne Plakate mit der Aufschrift »Kaufen Sie dieses Haus« oder »Grüner wird‚s nicht«. Es ist ein Experiment, von dem keiner weiß, ob es wirklich funktioniert.

»Bei meinen anderen Wohnungen in der Eisenbahnstraße«, sagt Katrin Kahraman, »achte ich darauf, dass die Sanierungskosten nicht zu hoch werden.« Das heißt: keine Echtholztüren mehr, keine Marmorfensterbänke, kein Stuck, keine Fußbodenheizung, kein Balkon. Aber dafür: Mieter mit Wohnberechtigungsschein. Wer sich in einer armen Gegend niederlässt, muss lernen, sich darauf einzustellen.

Das anschaulichste Beispiel dafür steht in der neuen Grünanlage »Rabet« im Leipziger Osten. Die markante Architektur der hundertjährigen Markthalle fällt sofort auf. Ihr Tonnengewölbe und die verspielten Giebel und Erker an der Fassade erinnern an die Zeiten, als das Haus als Kino, Kirche oder Lager diente. Lange war die Markthalle in Vergessenheit geraten, von leer stehenden Häusern verdeckt. Als man sie fand und mit viel Steuergeld sanierte, war die Freude über den architektonischen Schatz groß. Michael Behling – der Stadtentwickler – hätte darin gern einen hochwertigen Supermarkt gesehen. Katrin Kahraman – die Vermieterin – hätte dort gern einen türkischen Hamam eingerichtet. Den Zuschlag bekam letztlich: Aldi.

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