Durch den Kakao

Bislang kannte ich Kakao nur als Anrührgetränk für Kinder. Aber dann tauchte das Pulver in Clubs und auf Festivals auf, weil er angeblich das Bewusstsein erweitern kann. Protokoll einer spirituellen Erfahrung - und Junkiewerdung.

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Um diesen Text zu schreiben, werde ich etwas einwerfen. Das sag ich gleich vorab. Ich hab nämlich heute gar keine große Lust zu schreiben, es ist Montag,  das Wetter unentschlossen, am Kinn wächst ein Pickel. So ein Tag also, wo man der Laune durchaus ein bisschen auf die Sprünge helfen und dem Hormonhaushalt gewissermaßen einen Lambada spielen sollte, wenn man was schaffen will. Also hole ich meine Dose aus dem Rucksack, krame ein besonders schön gemasertes Teil in der Größe einer Mandel heraus, schnüffele dessen erdig-holziges Aroma ab, lege es mir auf die Zunge und kaue etwa zwanzig Mal darauf herum, bis sich eine bittere Masse im ganzen Mund ausbreitet. Dann setze ich mich an meinen Laptop und warte auf das Glück. Ich bin ein Kakao-Junky.

Das hat vor ein paar Wochen in einem Berliner Club angefangen, in dem die Smartphonekamera mit einem Aufkleber versiegelt wird, damit sich die Freaks drinnen ganz unüberwacht ungehörig verhalten können. Ich wanderte zwischen schwitzenden Gestalten herum, die sich an ihren Wasserflaschen festklammerten  als wären diese Rettungsbojen im Meer der Bässe, sah die grinsenden Extacy-Klinker auf der Tanzfläche, die dämmernden Kiffer auf der Couch, die hektischen Kokser auf dem Klo. Da zog ein Mann mit Turban und Glitzerwangen meine Aufmerksamkeit auf sich: Er ging mit einer Schale herum und raunte den Umstehenden etwas ins Ohr. Die Aspiranten tippten dann einen Finger in die ominöse Schale und leckten ihn ab, einer schniefte das darin befindliche Pulver durch die Nase, eine andere löffelte gleich richtig los. Als ich an der Reihe war, fragte ich, was er denn da mache. "Ne Kakao-Session", antwortete er . "Und wie soll das ablaufen?", fragte ich weiter. "Du nimmst dir was von dem Kakao und dann öffnet sich dein Herz", sagte er, schüttete mir ein paar Gramm in die Hand und verschwand im Nebel. So wurde ich angefixt.

Der Kakao, den der Turbanträger verteilt hat, ist der neue Stoff der urbanen Bewusstseins-(Erweiterungs-)-Gemeinde. Wohin ich in diesem Sommer auch ging, begegneten mir Kakaobohnen: bei Frühstücksverabredungen packten sich Freunde des Veganismus dunkle Nibs auf ihr Müsli, vor dem Yoga schmatzen Achtsamkeitsbewegte brüchige Stücke aus roher Kakaomasse, auf Techno-Festivals gingen die Bohnen im Feiervolk rum. In Berlin rudelten sich sonntags Subkulturelle an wechselnden geheimen Orten  zu "Lucid"-Treffen zusammen, wo kein Alkohol ausgeschenkt wird, sondern dickflüssiger Kakao. Wie konnte das Genussmittel Kakao vom schnöden Anrührgetränk eine derartige Renaissance des Kultischen erleben?

Um der Superbohne auf die Sinn-und-Seelen-Spur zu kommen, wende ich mich an die "Cacao Mama". Unter diesem Namen leitet die Berlinerin Serap Kara Zeremonien, Retreats und Workshops in ihrer Earth School über die "faszinierende Substanz Kakao", wie es auf ihrer Homepage heißt. Beim Seminar "Cacao Alchemy" würde man beispielsweise das antike Geheimnis der heiligen Samen erfahren, ihre Effekte auf Körper, Seele und Geist kennenlernen und die Tore zu Sternen und Planeten durchschreiten. Wenn es irgendwo eine Antwort auf meine Frage gab, dann bei ihr. Ich sollte vor Beginn ein Online-Formular ausfüllen, 108 Euro überweisen und auf eine leichte, vegane Kost umsteigen "da wir in den fein-schwingenden Raum dieser heiligen Pflanze eintreten", hieß es in einer Vorbereitungsmail.

Wenn Cacao-Mama Serap Kara über ihre Liebe zum Kakao berichtet, meint sie nicht Kaba-Getränke oder Milka-Schokolade. Kakao sei eine "Meisterpflanze" oder "Lehrerpflanze" die eine besonders starke Kraft besäße ähnlich wie Tabak, Coca, Peyote oder Ayahuasca. Bei uns werden diese Pflanzen oft als Drogen konsumiert, in indigenen Kulturen werden sie aber rituell verehrt. "Durch die Globalisierung sind diese mächtigen Pflanzen auf Reisen gegangen und mit ihnen auch der Schamanismus", sagt sie. Eine urbaner Schamanismus sei da gerade am entstehen. Ähnlich wie im Dschungel Lateinamerikas versammeln sich nun also auch im Dschungel der Großstadt Menschen, um der mächtigen Bohne zu huldigen.

Wir sitzen in einem Stuhlkreis in der Villa Eden in Berlin Pankow. Parkett, Blick in den Garten, Kachelofen. Ein Räucherstäbchen zieht eine zarte Säule an einer kahlen Wand hoch, es gibt Detox-Tee und zum Annähern an die Materie erstmal eine Kakaobohne. Ich schnippe sie mir in den Mund und fange vergnügt an zu kauen als ich die geschockten Gesichter der acht anderen Frauen bemerke. Serap  sitzt mir in weißer Leinenbluse und Jeans gegenüber, ihre dunklen langen Locken rahmen ihre dunklen Augen ein. Sie fragt: "Hast du sie schon gegessen?" Ich versuche die Einzelteile wieder in den Handteller zu spucken, während sie erklärt, dass wir uns mit allen Sinnen der Bohne widmen sollen. Sie stamme von einer kleinen Bioplantage auf Bali. Serap selbst habe dort ein Praktikum gemacht, um die Pflanze in ihrem natürlichen Habitat kennenzulernen. Auf ihrer Internetseite könne man ihn auch bestellen. Der Kakaobaum wächst wie ein Ring einmal um die Erde,  20 Grad nördlich und zwanzig Grad südlich des Äquators. Im Schatten von Kokospalmen, Bananenstauden und Avocadobäumen braucht er bis zu fünf Jahre um etwa handtellergroße Früchte zu tragen. Die in weichem Fruchtfleisch eingebetteten Samen werden herausgelöst und zwischen Bananenblätter oder in einer Kiste ausgelegt, wo sie fermentieren. Erst diese Säurebildung holt das typisch schokoladige Aroma aus der Bohne hervor. Die anderen Frauen im Stuhlkreis schnüffeln an der Bohne, befühlen ihre Oberfläche, lutschen, knacken, kauen. "Vorne floral" sagen sie und "in der Mitte erdig" und "hinten sehr bitter". Ich hole mir die spröden Reste aus den Zähnen. Ich fand sie vor allem erstmal ziemlich trocken.

Bis aus der unprätentiösen Kakaobohne eine raffinierte Schokoladentorte wird, braucht es viele Veredlungsschritte.  Aber: "Jeder Verarbeitungsschritt zerstört etwas von der lebendigen Kraft der Pflanze", sagt Serap. Der amerikanische Rohkost-Papst David Wolfe widmet sich seit vielen Jahren und Büchern der "Pflanze der Götter" und hat sie als sogenanntes "Superfood" weltweit populär gemacht, das sich heute in Bio-Supermärkten und Vegan-Läden regalmeterweise ausbreitet. Ähnlich wie Goji-Beeren, Spirulina-Algen oder Kokosnüsse sei roher Kakao eines der "potentesten, hochkonzentriertesten und nährstoffreichsten Nahrungsmittel unseres Planeten".  Mit Akribie listet er in seinem Buch "Naked Cacao" von 3-Alpha-Arabinosidyl-Cyanidin bis Xylose seitenweise die chemischen Komponenten auf, die in Schokolade enthalten sind. Das lässt sich zwar nur schwer lesen, erhöht aber beim Ernährungsbewussten die Gewissheit, einem sehr komplexen Ding auf der Spur zu sein. Besonders wichtig für Kakao als Seelenfutter seien Magnesium (fördert die Muskelentspannung), Serotonin (Glückshormon, das auch im menschlichen Gehirn enthalten ist), Anandamid (löst Gefühle von andauernden Hochgefühlen aus), Phenylethylamine (rufen Euphorie hervor wie bei sexuellen Interaktionen oder Verliebtheit, reduziert Hunger, fokussiert auf Moment), Theobromin (erweitert Gefäße und stimuliert Kreislauffunktionen), Tryptophan (verringert Angst und Stress), Arginine (aphrodisierende Aminosäure), Oxytocin (Bindungshormon, dass Gefühl von Bindung stärkt).

Die ernährungsphysiologischen Komponenten des Superfoods allein können aber nicht erklären, warum ich in diesem Stuhlkreis in Pankow gelandet bin. Seit über 4000 Jahren wird Kakao verehrt. Die Maya setzten ihn rituell bei Taufen, Hochzeiten oder Opferritualen ein und benutzten ihn sogar als Währung. Bei den Azteken wurde er mit Reichtum und Ansehen verbunden. Als 1519 der spanische Eroberer Hernan Cortes Mexiko unterwarf, bemerkte er wie dieser "göttliche Trunk die Müdigkeit bekämpft und die Widerstandskraft stärkt". Er brachte ihn nach Europa, wo er auf eine ganz neue Art der Liebhaberschaft stieß, die ihn mit Zucker süßte, drei Jahrhunderte später entölte, alkalisierte, mit Milch verrührte - und damit dem Massenkonsum freigab. Mittlerweile ist Schokolade die beliebteste Süßware in Deutschland, etwa  12 Kilo isst jeder Deutsche im Jahr. Das sind 120 Tafeln.

Die Frauen im Stuhlkreis erzählen, dass sie eine starke Verbindung zu Kakao hätten: manche mochten einfach schon immer Schokolade, manche waren bereits bei Kakao-Zeremonien im Ausland, eine Teilnehmerin hat auf einer Plantage in Brasilien gearbeitet, eine malt Bilder auf Kakao. Serap sagt, sie habe viele Jahre für die internationale Schmuckindustrie gearbeitet, sich mit Gold, Edelsteinen und Mineralien befasst. Sie recherchierte über die Herkunft der Ressourcen und ihre Wertschöpfungsketten und erkannte immer mehr die ausbeuterischen Strukturen des Rohstoffhandels. Aus diesen Erkenntnissen heraus gründete sie eine Stiftung, Earthbeat, die sich für den ethischen Abbau von Gold einsetzte. 2011 änderte dann eine selbstgemachte vegane rohe Schokolade ihres Mitbewohners ihr Leben: "Ich betrat einen spirituellen Raum, in dem ich das gesamte Bild des globalen Kakaohandels vor Augen hatte", sagt sie. Es sei wie ein Weckruf gewesen, dass sie sich für die Pflanze als Botschafterin einsetzen solle.

Ich werde nun doch ziemlich nervös. Sollte es möglich sein, tatsächlich einen veritablen Kakaotrip zu schieben? Werde ich malen, tanzen oder die Welt retten wollen? "Ihr werdet dem Geist der Pflanze begegnen", sagt Serap und ich finde das gar nicht so beruhigend. "Aber was genau passiere, sei ganz unterschiedlich. "Einmal ist ein Mann mitten in der Zeremonie aufgesprungen und hat gerufen: 'Ich gehe jetzt Holzhacken!'", sagt sie. Wir rollen Yogamatten auf dem Parkett aus, in deren Mitte die Frauen auf einem Altar Federn, Quarze und Perlenarmbänder ablegen. Serap holt eine Digitalwaage und schüttet aus einer Plastiktüte entölte Kakaostücke darauf. 20 Gramm pro Person würden für eine "wundervolle innere Erfahrung" ausreichen, 30 Gramm sei bereits eine "zeremonielle Erfahrung", bei mehr als 42 Gramm beginne der Körper den Kakao abzustoßen. Sie mischt den Kakao im Blender mit lauwarmem Wasser, Kokosblütenzucker, Vanille und Chili zu einem cremigen Sud, den wir mit geschlossen Augen aus kleinen Gläsern im Schneidersitz trinken. In den Mundwinkeln bleiben kleine Abdrücke zurück, die wie Lachmünder aussehen. Wir legen uns auf die Matten, Serap zündet Kerzen und Räucherstäbchen an, stellt Meditationsmusik an und beginnt in einem Säuselton von Wasser, Erde, Luft, Feuer zu sprechen, von Steinen und Blättern und Wurzeln und Engeln und Wesen der höhere Frequenzen. Mich überfällt ein gewaltiger Kopfschmerz. Sie fordert uns auf, uns vorzustellen wie unseren Füßen Wurzeln wachsen, aber bei mir wächst nur das Stechen an den Schläfen. Ich muss an den Mann denken, der während einer solch heiligen Zeremonie aufgesprungen ist um Holz zu hacken und unterdrücke ein Kichern. Während um mich herum die Frauen hörbar atmend und raunend in die spirituelle Erfahrung sinken, winde ich mich auf der Matte und versuche die Bilder vom Holzhacker zu verdrängen. Es ist kaum auszuhalten: ein Mann nach dem anderen zieht vor meinem inneren Auge mit der Axt vorbei und kitzelt geradezu meine Contenance. Ich könnte wiehern, so ulkig finde ich den Witz. Als Serap mit bedeutungsschwerer Stimme sagt: "Es ist, wie es ist" und "Du musst jetzt gar nichts", halte ich es nicht mehr aus und pruste laut los. Es bricht so derartig aus mir heraus, dass das Lachen an den kahlen Wänden schallt. Ich schüttele mich. Ein Mann will Holz hacken! Haha! Die Plantagenarbeiterin und Serap gucken mich erst verwundert an, dann lachen sie mit. Ich halte mir den Bauch, die Tränen laufen mir die Wangen herunter. Eine Frau nach der anderen lässt sich vom Lachanfall mitreißen. Holzhacken! Was für eine Idee! Und noch während ich lache, frage ich mich, was daran eigentlich so komisch sein soll: ein Mann, der mit einer Axt losziehen will, ist im Zusammenhang mit einer fragilen Regenwaldpflanze doch eigentlich gar nicht mal so lustig. Mein Lachen erstirbt allmählich und ein merkwürdiges Gefühl breitet sich aus. Hat der Kakao mir einen hintersinnigen Witz erzählt? Bin ich vom Kakao durch den Kakao gezogen worden?

Einige Tage nach der Zeremonie kaufe ich mir meine ersten eigenen Kakaobohnen. In der kleinen Dose begleiten sie mich jetzt: zum Frühstück, zum Yoga, zu Kakaorunden mit Freunden, zu Partys. Vielleicht veranstalte ich sogar mal eine kleine Kakaosession. Für diesen Text habe ich insgesamt 16 Kakaobohnen gegessen. Es ist Mittwoch, der Pickel ist weg und die Sonne scheint wieder, innerlich.