Nicht alles schlucken!

Ratgeber und Werbung ermahnen uns, stets viel Wasser zu trinken. Mindestens zwei Liter am Tag – so die Faustregel. Das hilft vor allem den Konzernen

Die Zeit / "Z"
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Letztens saß ich mit Kollegen an einem Konferenztisch, auf dem jeder die obligatorischen Accessoires des Alltags vor sich aufgebaut hatte – Portemonnaie, Smartphone, Wasserflasche –, und gab mich so einer richtig bösen Hassfantasie hin: Ich stellte mir vor, wie ich den Deckel von einer der Plastikflaschen abschraube, einen großen Schluck daraus nehme, bis die Backen kugelrund sind, und dann alles über den Tisch spucke. Die Kollegen würden von ihren Stühlen aufspringen, ihre klatschnassen Papiere einsammeln und rufen: "Bist du denn verrückt geworden?" Und ich könnte es endlich allen sagen: "Nein, aber ihr!"

Dabei hat der Groll gar nichts mit den Kollegen zu tun, die sind eigentlich ziemlich feine Menschen, sondern mit den Vittel-Flaschen vor ihnen. "Täglich mehr trinken", wirbt der Hersteller. Und da beginnt bei mir dieses Rumoren, das sich auch immer dann ankündigt, wenn ich eine Frau mit einer 1,5-Liter-Flasche Evian in der Riesen-Hermès-Handtasche durch die Straßen wackeln sehe. Oder Männer mit Riesen-Bärten grüne S.Pellegrino-Behältnisse wie Pokale herumtragen. Oder Soccer-Mums in ihren Riesen-Autos Fiji-Wasser im Flaschenhalter spazieren fahren. Sind die alle unterwegs zur Dialyse, oder warum können sie nicht mal auf dem Weg von A nach B von ihren Status-Nuckelflaschen ablassen? Und wieso gehört zu einem Friseurbesuch mittlerweile immer ein Glas Mineralwasser, als würde mir der Mund und nicht das Haar trocken geföhnt? Ich kann gar nicht so viel Mineralwasser in mich reinschütten, wie ich ausspucken möchte, wenn in Hörsälen auf winzige Klapptische gewaltige Wasserflaschen gestellt werden. Als würden die Studenten nicht gerade in einem klimatisierten Raum der Uni Sozialwissenschaften pauken, sondern auf einer Baustelle eine Mauer hochziehen.

Trinken ist wichtig, heißt es. Wir müssten immer seeehr viiiiiiel trinken. Bis wir sehr viel müssen. Denn unser Körper könne angeblich nicht genau signalisieren, wie viel Wasser er wirklich braucht. Wer mit dem Trinken wartet, bis er Durst hat, der hat sich schon aufgegeben. Denn Durst darf nicht sein in einer Überflussgesellschaft. Durst ist etwas für den globalen Süden, für Arme, für Unterprivilegierte, für Suboptimale. Zwei Liter mindestens sollen wir jeden Tag trinken, so lautet die allgemein akzeptierte Faustregel. Aber besser noch mehr. Mehr ist immer besser.

Wieso uns die Evolution ausgerechnet bei so etwas Elementarem wie der Flüssigkeitszufuhr mit einem unzuverlässigen Messinstrument zurückgelassen haben sollte, fragte sich der Physiologe und Nierenspezialist Heinz Valtin von der Dartmouth Medical School in New Hampshire schon 2002. Ob es wirklich sein kann, dass sich der Mensch eher auf die Zwei-Liter-Wasser-Regel denn auf seinen Durst verlassen muss? Valtin überprüfte die bis dahin vorgelegten Belege, die für das Trinken von viel Wasser angeführt werden. Er kam zu dem Schluss, dass es nicht nur "keine wissenschaftlichen Beweise dafür gibt, dass wir so viel trinken müssen, sondern dass die Empfehlung sogar schädlich sein könnte, weil sie sowohl eine potenziell gefährliche Hyponatriämie (also zu wenig Natrium im Blut) herbeiführen als auch die Schadstoffaufnahme steigern könnte und zudem bei vielen Menschen Schuldgefühle hervorruft, weil sie meinen, nicht genug zu trinken".

Besonders dieser letzte Punkt ist interessant, denn er gibt einen Hinweis darauf, wie sich das Mantra vom Mehr-Trinken verbreiten konnte. Laut Valtin lässt sich die Zwei-Liter-Regel auf eine Empfehlung des US-amerikanischen Ernährungsausschusses des National Research Council in den sechziger Jahren zurückführen. Dort hieß es, dass ein gesunder erwachsener Mensch pro einer aufgenommenen Kalorie einen Milliliter Wasser benötige. Bei etwa 2.000 Kalorien pro Tag ergibt das etwa zwei Liter. Allerdings – so hieß es in dem Ratgebertext weiter – werde der Großteil der benötigten Flüssigkeit bereits über die Nahrung aufgenommen. Dieser Zusatz wurde aber bei den größten Fürsprechern der Mehr-trinken-Bewegung meist weggelassen. Doch: Wer könnte denn an so etwas Normalem wie Wassertrinken ein Steigerungsinteresse haben? Außer der wasserverarbeitenden Industrie?

Am Mythos arbeiten auch die üblichen Ratgeber, deren Geschäftsgrundlage das Konzept der Schuld ist: Frauenzeitschriften, die das Leben zu einem einzigen Kampf gegen Gifte, Schlacken und Säuren erklärt haben ("Detox lautet die Zauberformel! Ganz wichtig: Mindestens 2 Liter pro Tag trinken, am besten Heilwasser (z. B. Adelholzener), um besser auszuspülen!"), Ernährungsberater und Fitnesscoaches, die zur völligen Körperkontrolle motivieren ("Ihr Urin sollte champagnerfarben sein, je heller, desto besser"), ein Wasserfilter-Hersteller empfiehlt sogar fünf Liter am Tag (weil unser Gehirn aus rund 85 Prozent Wasser bestehe, reagiere es "bereits auf geringste Wasserverluste extrem empfindlich"). Eine Gurke besteht aus über 90 Prozent Wasser und müsste nach dieser Logik im Dauerregen wachsen. Den neoliberalen Flüssigkeitsfanatikern zufolge haben wir es selbst in der Hand, ob wir müde, kranke und schrumpelige Low-Performer-Rosinen sind oder spritzige, fitte und saftige Leistungsschlucker.

Na gut, manche Menschen trinken gern viel Wasser. Was soll daran so schlimm sein, werden Sie sich fragen. Soll doch jeder machen, wie er durstig ist. Und da haben Sie recht: Ich rege mich ja auch nicht über Geschöpfe auf, die viel schlafen oder viel atmen. Was mich wirklich ärgert, ist die Tatsache, dass der Mythos des Mehr-Trinkens von profitorientierten Großkonzernen lanciert wird und in der Folge so etwas Elementares wie Wasser zu einem der profitabelsten Zweige der Nahrungsmittelindustrie geworden ist.

Beispielsweise sammelt die Initiative "Hydration 4 Health" auf ihrer Seite eine Reihe von Argumenten, warum wir mehr Wasser trinken sollten. Man kann dort einen Pipi-Farbtest bestellen und einen Flüssigkeitszufuhr-Schnelltest machen, der ausrechnet, ob man im Hinblick auf Alter, Geschlecht und Gewicht auch genug trinkt. "Wir glauben, dass wir dringend das Bewusstsein dafür schärfen müssen, wie wichtig Wassertrinken für eine gute Gesundheit ist", heißt es auf der Seite. Besonders im Hinblick auf die weltweit grassierende Fettsucht fühle man sich zu solchen Präventionsmaßnahmen verpflichtet. Die Initiative wird von Danone, einem der größten Lebensmittelkonzerne der Welt, gesponsert (der nicht unbeteiligt ist an der Verfettung der Welt). Danone vertreibt allein mit seiner Danone Waters Deutschland GmbH die Wassermarken Evian, Volvic und Badoit.

Der große Konkurrent Nestlé empfiehlt in seinem "Ernährungsstudio", sich auf jeden Fall mit Wasser zu versorgen, bevor der Durst kommt. "Als kleine Gedächtnisstütze können Sie sich auch einen Post-it-Zettel mit dem Wort 'trinken' an den PC heften." Dieser Hinweis ist aber auch nur dann geschmackvoll, wenn man ausblendet, dass Nestlé seit Dekaden weltweite Wasservorkommen privatisiert und damit all jenen den Zugang zu ausreichend sauberem Trinkwasser erschwert, die keinen PC und auch keine Post-its haben, geschweige denn brauchen, um sich ans Trinken zu erinnern.

Noch unverblümter ist der Verband Deutscher Mineralbrunnen, der das Mantra "Vom Mehr-Trinken zum Mehr-Leisten" in die Schulen trägt. Unter dem allerdings ziemlich guten Namen "Trinken im Unterricht" setzt sich die deutsche Mineralwasserindustrie dafür ein, dass Schüler auch während des Unterrichts einen Hieb aus der Flasche nehmen dürfen, weil sie dadurch konzentrierter und leistungsfähiger würden. Wer den lieben Onkeln und Tanten von der Mineralbrunnenindustrie ein Klassenfoto schickt – gern auch mit Wasserkästen im Bild –, kann sogar 150 Euro gewinnen! Schon in der Schule soll der Gedanke eingepflanzt werden, dass Mineralwasser ein Leistungselixier ist, in das zu investieren sich lohnt.

Und die Strategie geht auf. Die Deutschen kaufen jedes Jahr mehr in Flaschen abgefülltes Wasser: 1970 trank ein Deutscher noch 12,5 Liter natürliches Mineralwasser, im Jahr 2000 waren es schon 100 Liter und 2016 ganze 148 Liter pro Person. Die Lebensmittelzeitung erklärt das mit einem "Bewusstsein um die positiven Wirkungen von natürlichem Mineralwasser" und einem "positiven Image als gesundes und modernes Getränk". Dabei geht übrigens das Interesse an klassischem Sprudel zurück, der wenigstens so ein lustiges Kribbeln in der Nase erzeugt. Nein, der Deutsche trinkt mit steigender Begeisterung Mineralwasser mit wenig bis gar keiner Kohlensäure. Ein schlappes Wässerchen, das sich in gleicher und manchmal sogar besserer Qualität auch aus der Leitung zapfen lässt.

Wenn ich meine Kollegen, Freunde und Verwandte frage, warum sie lieber teures Mineralwasser statt billigem Leitungswasser trinken, gucken die meisten irritiert und antworten: "Weil es besser schmeckt" oder "Weil es gesünder ist". In ihren Augen sehe ich Bilder von schneebedeckten Alpengipfeln und unberührten Bergquellen. Bei Leitungswasser denken alle an Kloake, Medikamentenrückstände und Chemie. Doch die Stiftung Warentest hat 30 Medium-Mineralwässer getestet. Fast zwei Drittel erhielten nur die Note "befriedigend" und "ausreichend", weil man "unerwünschte Spuren aus Landwirtschaft, Industrie und Haushaltsabwasser" in den Flaschen gefunden hat. Will heißen: Der ewige Wasserkreislauf spült die Pestizide und Korrosionsschutzmittel mit. Und auch geschmacklich hatte die Stiftung Warentest bei vielen Flaschenwassern etwas auszusetzen: Viele würden nach Acetyldehyd schmecken, einem Stoff, der bei der Herstellung von Kunststoff entsteht und von den Plastikflaschen ins Wasser übergehen kann.

Überhaupt: Plastikflaschen! Aber wenn ich jetzt noch anfange, über die Beschissenheit von Plastik zu schreiben und darüber, was für eine irre Idee es ist, in Kunststofffolie verschweißte PET-Flaschen in einen irgendwie natürlichen und bewussten Lebensstil integrieren zu wollen, dann werden wir hier alle nicht mehr glücklich. Ich lasse Ihnen einfach mal die Begriffe Erdölknappheit, CO₂-Emissionen, Klimawandel und toter Seevogel da.

Erfreulicherweise regt sich Widerstand. Der Berliner Nachhaltigkeitsverein a tip:tap setzt sich dafür ein, wieder mehr Leitungswasser zu trinken, denn das ist hierzulande eines der besten Trinkwasser weltweit. "Stell dir vor, du könntest die Welt retten, indem du faul und geizig bist", heißt einer ihrer Kampagnensprüche. Die Berliner Aktivisten wollen Trinkwasserbrunnen auf den Straßen und in der Schule installieren und verteilen Aufkleber an Restaurants und Unternehmen, die ihren Kunden Wasser aus dem Hahn zapfen. Auf der Internetseite Refill Deutschland sind auf einer interaktiven Karte jene Cafés, Tankstellen und Bars eingezeichnet, bei denen man kostenfrei seine Trinkflasche auffüllen darf. Viele kleine blaue Tropfen verteilen sich da über Deutschland. So was macht mich fröhlich.